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# taz.de -- „Ein anderes Land“ von James Baldwin: Zum Greifen nah
> James Baldwins „Ein anderes Land“ ist ein Roman über das rettende
> Potenzial der Liebe – das immer wieder verspielt wird. Nun ist er neu
> erschienen.
Bild: Verstehen, was man getan hat, und warum man es getan hat: Autor James Bal…
„Ein anderes Land“, der Roman, mit dem James Baldwin Anfang der 60er Jahre
berühmt wurde, ist nun in einer Neuübersetzung von Miriam Mandelkow
erschienen – sie hat zuvor bereits [1][drei weitere Romane Baldwins] sowie
einen Essayband ins Deutsche übertragen. Auf den ersten knapp 120 Seiten
begleitet der Roman in einer Art Prolog den Ende zwanzigjährigen Schwarzen
Jazz-Drummer Rufus Scott in seinen Selbstmord durch den Sprung von der
George-Washington-Bridge.
Genau so hatte 1946 Baldwins Freund Eugene Worth sein Leben beendet. Zwei
Jahre später [2][verließ Baldwin die USA] und zog nach Europa, zunächst
nach Paris, um, wie er viel später einmal in einem Interview sagte, selbst
jener Zerstörung zu entgehen, die seinem Freund das Leben gekostet hatte.
Was ist das für eine Zerstörung, von der Baldwin erzählt? Durch die präzise
Sezierung zwischenmenschlicher Beziehungen wächst der Text über eine
Momentaufnahme der USA der späten fünfziger Jahre hinaus. Machtverhältnisse
dringen in die privatesten Begegnungen von Menschen und entfremden sie
voneinander.
Dies ist wohl universell gültig, auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach
der Veröffentlichung des Romans, auch diesseits des Atlantiks. Was
schmerzt, ist, dass die Liebe in diesem Roman zu jeder Zeit zum Greifen nah
ist und doch unerreichbar bleibt.
In einem Flashback wird die Geschichte von Rufus und Leona erzählt. Leona
kommt aus den Südstaaten, wo sie von ihrem Mann misshandelt wurde und wo
man sie von ihrem Kind getrennt hat – „Rufus, ich mag dich wirklich, tu mir
bitte nicht weh.“
## Die Harmonie gerät ins Wanken
Solange die beiden eine Welt außerhalb ihrer Zweisamkeit ausblenden können,
beschädigen sie sich wenig. Damit diese Harmonie ins Wanken gerät, reicht
aber bereits der Besuch von Rufus’ bestem Freund Vivaldo, einem angehenden
Weißen Schriftsteller, der endlich fähig sein will, seinen ersten Roman zu
schreiben: Rufus’ „Beschwingtheit verflog, galliger Argwohn erfüllte ihn.
Verstohlen blickte er zu Vivaldo, der sein Bier trank und Leona mit einem
undurchdringlichen Lächeln betrachtete.“
Bei anderen Autoren könnte dies einfach ein Bild für Eifersucht sein, aber
Baldwin weiß, dass das Begehren und die Verletzungen darunter die
Geschichte der Gewalt erzählen, in der sich die Menschen unserer Zeit
eingerichtet haben. Beim Spazieren trifft der Blick der Welt auf Rufus,
Leona und Vivaldo: „Durch die Augen der Passanten starrte sie die drei
abweisend an, und Rufus begriff, dass er diese Welt und ihre Macht, zu
hassen und zu zerstören, ganz und gar nicht bedacht hatte.“
Bei diesem Spaziergang stellt sich Rufus auch vor, wie seine Schwester Ida
reagieren würde: „Was ist los mit dir – schämst du dich, dass du schwarz
bist?“
## Nicht ehrlich genug
Kurz bevor der fragmentierte Rufus endgültig seiner finalen Auflösung
entgegengeht, sucht er Beistand bei Vivaldo und trifft dabei sogar weitere
Freunde, nämlich Cass und ihren Mann Richard, der zwar Schriftsteller ist,
dessen Roman aber die nötige Tiefe fehlt, weil er nicht stark und ehrlich
genug ist, um sich der Wahrheit seiner Figuren wirklich zu stellen – für
Baldwin, dessen Ziel es war, „aufrichtiger Mensch und ein guter
Schriftsteller“ zu werden, wie er in seinen „Autobiografischen Notizen“
schreibt, die größte Angst.
Sowohl die Begegnung mit Vivaldo als auch etwas später mit Cass enthält
bereits die Möglichkeit dessen, was Menschen einander geben könnten und
Rufus vom Freitod abgehalten hätte. In der Bar, in die ihn Vivaldo
geschleppt hat, obwohl Rufus lieber in der Geborgenheit von Vivaldos
Wohnung geblieben wäre, setzt sich Cass zu ihm. Sie verurteilt ihn nicht
für die Dinge, die er Leona angetan hat, aber sie verdrängt auch nichts:
„Ich glaube, wenn du älter wirst, erkennst du, dass wir alle Schuld auf uns
laden. Das Entscheidende ist, nicht zu lügen – sondern nach Möglichkeit zu
verstehen, was man getan hat und warum man es getan hat.“
Als sie dann mit ihrem Mann aufbrechen möchte, heißt es: „Auf einmal hatte
Rufus Angst davor, dass sie wegging.“
## Rassistischen Albtraum beenden
Was ist dieses rettende Potenzial, das in diesem Buch (und in dieser Welt)
immer und immer wieder verspielt wird? In „Nach der Flut das Feuer“,
Baldwins Essay, der ein Jahr nach „Ein anderes Land“ erschien und ebenfalls
von Miriam Mandelkow ins Deutsche übertragen wurde, reflektiert Baldwin
diese kaum genutzte Möglichkeit, die in den Menschen angelegt ist:
„Wenn wir – damit meine ich die einigermaßen bewussten Weißen und die
einigermaßen bewussten Schwarzen, die wie Liebende das Bewusstsein des
anderen einfordern oder wecken müssen – jetzt nicht nachlassen in unserer
Pflicht, sind wir, die kleine Handvoll, vielleicht imstande, diesen
rassistischen Albtraum zu beenden, unser Land zu gestalten und den Lauf der
Weltgeschichte zu ändern.“
In seinem Roman, in dem die Zerstörung, die das rassistische System im
Geist aller Beteiligten, ob Schwarz oder Weiß, anrichtet, kann, darf und
möchte die Aussage nicht so klar sein. Die Form des Romans entzieht sich
einem Denken in Thesen und mit Argumenten, sie schöpft ihre Kraft aus dem
Leben selbst, einschließlich der Reflexionen, die zum Leben dazugehören.
Die Wirkrichtung geht nicht von der Erkenntnis zum Bild, sondern umgekehrt
von der genauen Beobachtung zu einer Erkenntnis, die mitunter mehr
körperlich als intellektuell sein kann, etwa in einer Szene der
Geständnisse gegen Ende des Romans.
## Die Macht des Wegsehens
Vivaldo kommt mit Rufus’ Schwester zusammen, er will ihr „beweisen“, dass
„die Welt nicht so schwarz ist, wie sie glaubt“. Dieser Wunsch deutet
bereits an, dass es hier nicht wirklich um die andere Person, um Ida, geht.
Vivaldo empfindet Schuld für Rufus’ Tod, gesteht sie sich aber kaum ein.
Rufus ist am Rassismus und an sich selbst zerbrochen und daran, dass die
eine – auch sinnliche – Berührung, die ihn hätte retten können, ausblieb…
„sinnlich zu sein bedeutet für mich, die Kraft des Lebens, das Leben selbst
zu respektieren“, schreibt Baldwin in „Nach der Flut das Feuer“.
Vivaldo ist nicht nur Teil dieses rassistischen Systems, sondern einer
allgemeinen Machtstruktur der Selbstverleugnung und des Wegsehens. So
verdrängt er seine, eben nicht nur freundschaftliche, sondern auch
romantische Liebe für Rufus, verrät sein eigenes Begehren und geht mit ihm
Pizza essen, statt ihn zu berühren. Ida hingegen öffnet sich Vivaldo
gegenüber nie ganz, sein Weißer Blick und ihre Erfahrungen als Schwarze
Frau stehen zwischen ihnen.
Erst in jenem heftigen Gespräch gegen Ende ist eine ehrliche Begegnung
möglich: „Ihre langen Finger strichen über seinen Rücken, und er begann,
langsam, mit einem schrecklichen Würgen, zu weinen, denn sie strich die
Unschuld aus ihm heraus.“
## Suchen, Wagen, Wachsen
Vivaldo verliert seine Unschuld, indem Ida ihm alles erzählt, was er vorher
so gut hatte verdrängen können: von ihrer Affäre mit einem Weißen,
machtvollen Produzenten, den sie für ihre Karriere als Sängerin braucht.
Auch auf grausame Details verzichtet sie nicht, vielleicht aus Rache,
vielleicht, weil Liebe in der Welt von Baldwin ohne die Zumutungen der
Wahrheit nicht möglich ist.
„Ich benutze das Wort ‚Liebe‘ hier nicht nur im persönlichen Sinn“,
schreibt er in „Nach der Flut das Feuer“, „sondern als Seinszustand oder
Gnadenstand – nicht im kindlichen amerikanischen Sinn des Glücklichwerdens,
sondern im universellen herben Sinn des Suchens, Wagens und Wachsens.“
Der erste männliche Liebhaber von Rufus, eine weitere zentrale Figur des
Romans, der Schauspieler Eric, zweifelt, ob er ihn jemals wirklich geliebt
habe: „Oder war es nur Wut und Wehmut und Schuld gewesen? Und Scham? Hatte
er sich an Rufus’ Körper geklammert oder an die Körper dunkler Männer, auf
die er kurze Blicke erhascht hatte, irgendwo in einem Garten, auf einer
Lichtung, vor langer Zeit.“
## Zuwenig geliebt
Wie können wir durch Hautfarben, Geschlechtszuschreibungen, kulturelle
Aufladung hindurch wirklich die Person sehen? Was immer es ist, das die
Menschen so voneinander trennt, und in welcher Form von Macht und
Missbrauch es sich ausdrückt, es hat etwas mit der Unfähigkeit der Menschen
zu lieben zu tun.
Hier [3][trifft Baldwin auf Adorno,] der in seiner „Erziehung nach
Auschwitz“ schreibt: „Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich
zuwenig geliebt, weil jeder zuwenig lieben kann.“ Beide, Baldwin und
Adorno, sehen davon ab, Liebe zu predigen, weil die grundsätzliche
Unfähigkeit dazu zu tief und zu lange schon in den Menschen verankert ist.
Aber durch ein genaues, das heißt ehrliches Beobachten des eigenen Handelns
und Begehrens können die fatalen Folgen dieser Unfähigkeit mitunter
abgemildert werden und im Einzelnen sogar zu so etwas wie einer sinnlichen
Wahrheit führen – die eben im höchsten Maße politisch ist.
7 Jun 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Deniz Utlu
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