# taz.de -- Ndegeocellos Album über James Baldwin: Sein Buch hat ihr Leben ver… | |
> „No More Water – The Gospel of James Baldwin“: US-Musikerin Meshell | |
> Ndegeocello ehrt den Schriftsteller mit einem süffigen Konzeptalbum. | |
Bild: „Ich bezeuge, was in meiner Zeit geschieht“, sagt Meshell Ndegeocello | |
Mit seinen Romanen, Theaterstücken und Essays war James Baldwin (1924-1987) | |
eine wichtige literarische Stimme der Civil-Rights-Bewegung. Seine | |
schonungslose Sicht auf die USA und den sogenannten Westen, sein Aufzeigen | |
von rassistischen Strukturen in der US-Gesellschaft, seine Fragen nach | |
Identität, Religion und Sexualität sind schon zu seinen Lebzeiten | |
kontrovers diskutiert worden. Welchen Stellenwert sein 100. Geburtstag hat, | |
s[1][ieht man auch an der Jazz-Musikerin Meshell Ndegeocello]. Ihr neues | |
Album „No More Water: The Gospel of James Baldwin“ ist eine Hommage an den | |
bedeutenden Schriftsteller. | |
In jüngster Zeit ist Baldwin und sein Schaffen zwar immer mal wieder von | |
Musiker*innen wie R&B-Sängerin Jamila Woods und [2][dem Freejazztrio | |
Moten/Lopez/Cleaver um den Kulturtheoretiker und Dichter Fred Moten] geehrt | |
worden. Meshell Ndegocellos Doppelalbum „No More Water“ ist jedoch die | |
bislang komplexeste Würdigung des US-Autors in der zeitgenössischen Musik. | |
Dabei hatte die Künstlerin nicht den runden Geburtstag Baldwins im Sinn, | |
als sie mit den Planungen für das Projekt begann. | |
Sie wurde bereits 2015 vom Theater „Harlem Stage“ in New York beauftragt, | |
an den Feierlichkeiten teilzunehmen, die diese Institution alljährlich für | |
den Schriftsteller ausrichtet. Daraus entwickelte sich eine | |
Multimediaperformance, die Ndegeocello mit einem Ensemble in der Folge | |
mehrfach aufführte. Schon bald hatten sie und ihre Truppe genügend Stücke | |
zusammen, um ein Album aufnehmen zu können. | |
Unter der künstlerischen Leitung von Ndegeocello spielten elf | |
Musiker*innen und Sprecher*innen das Album schließlich in nur vier | |
Tagen ein. Für diesen kollektiven Schaffensprozess wählte Ndegeocello einen | |
besonderen Ort, die Dreamland Studios, eine ehemalige Kirche in der kleinen | |
Ortschaft Hurley im Bundesstaat New York. „Das Album hat mich Geduld | |
gelehrt, da seine Musik 2018 aufgenommen wurde und ich auf den richtigen | |
Veröffentlichungszeitpunkt warten musste“, erklärt Ndegeocello im Gespräch | |
mit der taz. | |
## Die Stimmkraft des Gospels | |
Den Albumtitel „No More Water“ leitet sie aus Baldwins Buch „The Fire Next | |
Time“ von 1963 her, das zwei der bekanntesten Essays des Autors enthält. | |
Auch wenn Ndegeocello [3][Romane wie „Another Country“] und „Giovanni’s | |
Room“ bereits kannte, hat sie dieses Werk erst in Vorbereitung auf ihr | |
Musikprojekt gelesen. Der prophetische Ton von Baldwin, seine Beschreibung | |
der Angst von Weißen vor sich selbst, die sich als Hass auf die Schwarzen | |
entlädt, war eine Befreiung für die Künstlerin. „Ich habe das Buch ein Jahr | |
überall mit mir rumgetragen, weil es mein Leben verändert hat“, erklärt die | |
Musikerin. | |
„The Fire Next Time“ habe ihr die Augen für die Probleme der Gegenwart | |
geöffnet. Zugleich habe es ihr geholfen, ihre Eltern besser zu verstehen, | |
die vor der Zeit der Civil-Rights-Bewegung aufgewachsen sind. Im | |
Vordergrund der 17 Stücke steht die Stimmkraft des Gospels, eine Musik, die | |
für Baldwin als Stiefsohn eines Pastors und junger Prediger ebenfalls | |
prägend war. Doch auch der weltliche Blues, seine Sprache und sein | |
lakonischer Blick auf die Gegenwart waren für Baldwin von ebenbürtiger | |
Bedeutung. Ndegeocello verweist für ihre Bearbeitung auf die Einheit dieser | |
Genres für eine Schwarze musikalische Identität: „Gospel und Blues sind | |
beides für mich Schwarze amerikanische Musiken. Ich mache da keine | |
Unterscheidung.“ | |
Einige Lieder wie „Another Country“ verweisen schon im Titel auf Baldwins | |
Bücher. Dann wiederum sind Texte von ihm in andere Stücke eingewebt. Ein | |
Rezitat in französischer Sprache steht für Baldwins Zeit in Paris, durch | |
die der Dichter Abstand und eine neue Perspektive auf sich und die | |
Situation in seinem Heimatland erhielt. Doch Ndegeocellos Werk bleibt nicht | |
der Vergangenheit verhaftet. Vielmehr nimmt die Künstlerin Baldwin als | |
Grundlage, um über das Heute nachzudenken. Die Entstehung um 2018 herum | |
führt dazu, dass etwa die Black Lives Matter-Bewegung und ihre Anliegen | |
einen zentralen Fokus darstellen. | |
## Wut auf die Historie rassistischer Gewalt | |
Unter den Mitwirkenden taucht entsprechend auch der Name von Alicia Garza | |
auf, eine der Gründungsfiguren von BLM. Am deutlichsten tritt dies in | |
„Raise the Roof“ hervor. Über langgezogene Saxofontöne und elektronische | |
Effekte ist die Spoken-Word-Poetin und queere Aktivistin Staceyann Chinn zu | |
hören. Zornig listet sie Morde an Schwarzen in der Geschichte der USA auf, | |
klagt Polizeibrutalität und das Gefängnissystem an, in dem überproportional | |
viele Schwarze Häftlinge einsitzen – Missstände, die Baldwin schon vor 60 | |
Jahren angegriffen hat. | |
Sie zählt Menschen auf, die in jüngster Zeit Opfer polizeilicher Willkür | |
wurden, und ruft schließlich zum Widerstand auf. Im direkten Anschluss | |
folgt „The Price of the Ticket“. Hier hört man Ndegeocellos Gesang, solo, | |
nur begleitet von einer akustischen Gitarre im Stile eines Protestsongs der | |
Schwarzen Folksängerin Odetta, die bei Baldwins Beerdigung gesungen hat. | |
Ndegeocellos Songtext nimmt die Perspektive einer unschuldigen Person ein, | |
die gerade einem Polizisten mit gezückter Waffe gegenübersteht. Sie | |
appelliert an seine Menschlichkeit und bittet ihn, sie gehen zu lassen, | |
weil sie weiß, dass er genauso ängstlich ist wie sie selbst. | |
Der Kontrast zwischen „Raise the Roof“ und „The Price of the Ticket“ k�… | |
kaum größer sein: Wut auf die lange Historie rassistischer Gewalt steht die | |
alltägliche Erfahrung und die damit verbundene Verletzlichkeit und das | |
Ausgeliefertsein des Einzelnen gegenüber, eine emotionale Achterbahnfahrt, | |
die den Gegensatz zwischen abstrakter Geschichte und individueller | |
Erfahrung zum Ausdruck bringt. | |
## Baldwin liebte Musik | |
Baldwin hatte eine innige Verbindung zur Musik. „Musik war und ist meine | |
Erlösung“, bekannte er 1987 in einem Interview kurz vor seinem Tod. Der | |
Sound von Ray Charles, Miles Davis und Aretha Franklin war Baldwin | |
inspirierend für sein Schreiben. In seinen Romanen und Theaterstücken | |
finden sich zahlreiche Verweise auf Stücke aus den Genres Blues, Gospel und | |
Soul. | |
Musiker*innen gehören von der Kurzgeschichte „Sonny’s Blues“ (1957) bis | |
zu seinem letzten Roman „Just Above My Head“ (1979) zu den wiederkehrenden | |
Charakteren in seinen Erzählungen. Über Jazz hat er genauso geschrieben wie | |
über Boy George und Michael Jackson. Zu seinem Freundeskreis zählten die | |
Musiker:Innen Nina Simone und Roy Ayers sowie singende | |
Schauspieler*innen wie Harry Belafonte und Lena Horne. | |
So wie Baldwin Musik liebte, fühlt sich Ndegocello zur Literatur | |
hingezogen. Der New Yorker Kulturkritiker Greg Tate (1957-2021) war einer | |
ihrer engsten Freunde. Auf vergangenen Alben spielte sie auf Traktate von | |
Black Panther-Mitbegründer Eldridge Cleaver an. Neben Baldwin gibt es auf | |
„No More Water“ auch Zitate aus den Schriften der feministischen | |
Theoretikerin Audre Lorde (1934-1992), etwa in der Single „Thus Sayeth the | |
Lorde“, in der Staceyann Chinn über einen lebensfrohen Groove die Worte der | |
feministischen Theoretikerin in eine Predigt voller Hoffnung verwandelt. | |
## Sie bezeugt die Wirkung von Baldwins Schaffen | |
In den Reihen jener, die Ndegeocello zur Mitarbeit eingeladen hat, findet | |
sich auch der mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Autor Hilton Als. „Ich | |
habe Schriftsteller*innen immer bewundert“, beschreibt Ndegeocello ihre | |
Verbindung zum geschriebenen Wort. „In der Schule war ich nicht sehr gut, | |
aber zwei besondere Lehrer*innen haben mir nahe gebracht, wie wichtig | |
Lesen ist, für den Wortschatz wie das generelle Verständnis. Für mich ist | |
Lesen auch eine Möglichkeit zur Flucht. Ich liebe Romane, wie auch | |
Sachbücher. Lesen hilft mir, meine Ohren abzustellen und nur meine Augen | |
und meinen Kopf zu benutzen.“ | |
Baldwin hat ebenfalls über die Rolle von Künstler*innen und speziell von | |
Musik nachgedacht. Wie sieht Meshell Ndegeocello sich selbst, ihr Schaffen | |
und ihre Aufgabe als Musikerin in der Gegenwart? Ohne Nachzudenken | |
antwortet die 55-Jährige: „Ich bin eine Zeugin, eine Zeugin, die die | |
Wirkung von Baldwins Schaffen bezeugt. Seine Bücher helfen mir, über die | |
Zukunft nachzudenken, über die Klimakrise, die mir Angst bereitet. Ich bin | |
nur eine Zeugin, so wie er ein Zeuge war, der erlebt hat, wie Martin Luther | |
King und Malcolm X ermordet wurden. Ich bezeuge das, was in meiner Zeit | |
geschieht. Das ist die Aufgabe von Künstler*innen.“ | |
James Baldwin hob hervor, wie wichtig das Zuhören ist. Meshell Ndegeocellos | |
Album lädt uns hierzu ein, mit den Ohren, mit dem Kopf – aber auch mit | |
unserer Seele. | |
25 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sven Beckstette | |
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