# taz.de -- Konzert in der Berliner Philharmonie: Der Mord am Wahllokal | |
> Klassische Musik wird vielfältig – wie am Sonntagabend in der Berliner | |
> Philharmonie, als u.a. Jessie Montgomerys „Hymn for Everyone“ aufgeführt | |
> wurde. | |
Bild: Dirigent André Raphel am Sonntagabend in der Berliner Philharmonie | |
Es war ein Konzertabend im Zeichen des Widerstands, der Hoffung – und des | |
Findens am Sonntag in der Berliner Philharmonie. „Hymn for Everyone“ heißt | |
die erste Neuentdeckung, ein Werk der afroamerikanischen Komponistin Jessie | |
Montgomery, das ihrer verstorbenen Mutter, der Dramatikerin Robbie | |
McCauley, gewidmet ist. | |
Der Titel dieser erst 2022 in Philadelphia uraufgeführten Komposition | |
bezieht sich auf das von McCauly verfasste „Poem for Everyone“. [1][„Hymn | |
for Everyone“ greift den bereits in der US-Bürgerrechtsbewegung bedeutenden | |
Hymnus „Lift Every Voice and Sing“] auf und wird durch seine lyrische | |
Melodie getragen, wobei besonders die Rhythmik der Komposition einem | |
Trauermarsch ähnelt. | |
Eine erste Fassung von „Hymn for Everyone“ komponierte Montgomery nach | |
einer Wanderung – die zentrale Melodie durchläuft als eine Art Meditation | |
verschiedene Chöre des Orchesters. Seine Fünfte Symphonie, die | |
„Reformationssymphonie“, widmete der jüdische Konvertit Felix Mendelssohn | |
Bartholdy dem Protestantismus. | |
## Dickes Tier mit Borsten | |
In ihrem vierten und letzten Satz greift sie den Choral „Ein feste Burg ist | |
unser Gott“ auf. Mendelssohn Bartholdy komponierte sie im Alter von 21, | |
rechnerisch gesehen ist sie seine zweite Symphonie. Veröffentlicht wurde | |
sie allerdings erst posthum, weil der Komponist zu Lebzeiten nicht genug | |
von ihr überzeugt war. „Der erste Satz ist ein dickes Tier mit Borsten, als | |
Medizin gegen schwache Magen zu empfehlen“ schrieb er 1830 in einem Brief. | |
André Raphel feiert mit diesem Programm sein Debüt als Dirigent beim | |
Deutschen Sinfonie-Orchester. Er dirigiert Montgomery und Mendelssohn | |
Bartholdy ohne Partitur, und man ist der Fünften Symphonie, nicht zuletzt | |
durch sein klares und lebhaftes Dirigat, keineswegs überdrüssig. | |
Den Höhepunkt des Abends beschert die europäische Uraufführung von [2][Uri | |
Caines] „The Passion of Octavius Catto“. In zehn Kapiteln für Orchester, | |
improvisierendes Klavier, Gospelsolo und Gospelchor erzählt der | |
US-Komponist das Leben und den Tod des Schwarzen Bürgerrechtsaktivisten, | |
Pädagogen und Baseballpioniers Octavius Catto, der 1871 auf seinem Weg in | |
ein Wahllokal in Philadelphia von einem Rassisten ermordet wurde. | |
## Der Komponist improvisiert höchstselbst | |
Caine selbst improvisiert am Sonntagabend in Berlin virtuos am Klavier und | |
wird begleitet von der Originalbesetzung seiner 2014 uraufgeführten „The | |
Passion of Octavius Catto“: der Sängerin Barbara Walker, einem zu tränen | |
gerührten Bassisten Mike Boone sowie Clarence Penn am Schlagzeug. Lokal | |
erweitert durch den Bundesjugendchor und den BIPoC-Chor „A Song for You“. | |
Beide gemeinsam leuchten durch geschlossenen Klang und Präzision und holen | |
den Diskus als Kollektiv junger Stimmen ins Hier und Jetzt. | |
An Aktualität ist „The Passion of Octavius Catto“ kaum zu überbieten, wenn | |
die US-Regierung unter Donald Trump Initiativen für „Diversität, | |
Verteilungsgerechtigkeit und Inklusion“ den Krieg erklärt und der | |
[3][„Martin Luther King Jr. Day“] (ein Feiertag, meist dritter Montag im | |
Januar) bei den ersten Bundesstaatsbehörden wieder auf der Kippe steht. | |
Die klassische Cain’sche Symbiose von Genres erhält Standing Ovations und | |
verbildlicht, wie gut Repräsentanz funktioniert. Mit Programm und | |
Musiker:innen gestaltet sich auch das Publikum umgehend vielfältiger. | |
Klassische Musik darf Haltung und Protest bedeuten, aber auch, im ganz | |
weltlichen Sinne, als feste Burg gelten im Ringen mit alltäglichen | |
Widerständen. In jedem Fall ist dieser Konzertabend am Sonntag in Berlin | |
eine gelungene Erinnerung daran, dass ein freies, inklusives und | |
diskursives Konzertprogramm auch dauerhaft und abseits von thematischen | |
Projektförderungen vonnöten ist. | |
Jessie Montgomery zumindest ist 2026 wieder mit ihrer Komposition | |
„Starburst“ beim DSO in Berlin zu Gast. Wer mag, kann das Konzert [4][in | |
der Mediathek von RBB Radio 3] nachhören. | |
17 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /US-Produzent-Quincy-Jones-gestorben/!6046579 | |
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[4] https://www.radiodrei.de/programm/schema/sendungen/radio3_konzert/archiv/20… | |
## AUTOREN | |
Lia Hillers | |
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