# taz.de -- Arnold Schönbergs Jubiläum: 40 Minuten, die die Welt veränderten | |
> Vor 100 Jahren entstand der Melodramenzyklus „Pierrot Lunaire“. Arnold | |
> Schönbergs Komposition stieß der Moderne die Tür auf. | |
Bild: Der österreichische Komponist Arnold Schönberg ist 1951 in Los Angeles … | |
Beifall von der anderen Seite muss nicht falsch sein. Schönbergs Antipode | |
Igor Strawinsky nannte dessen 1912 in Berlin uraufgeführten | |
Melodramenzyklus „Pierrot Lunaire“ später den „Solarplexus der Moderne�… | |
Ein Bild, das gleich in mehrfacher Hinsicht zutrifft, auf Fragilität und | |
Schärfe dieser bewusst in der kleinen Form angesiedelten Komposition ebenso | |
wie auf die simultanen, aber höchst produktiven Schockwirkungen, die erste | |
„Pierrot“-Aufführungen in den jeweiligen Rezeptionskontexten auslösten. | |
Das Versprechen uneingeschränkter Tonfreiheit beendete eine schier endlose | |
Kette spätromantischer Zerfallsprodukte in der Musik, warf Ausdruckshülsen | |
und emotionalen Ballast über Bord, um neue Ausdrucksmöglichkeiten aufzutun, | |
und befreite das gesamte Arsenal hochentwickelter Kompositionstechniken | |
seiner Zeit von den Fesseln der Konventionen, unter denen sie entstanden | |
waren. | |
Aus der Summe seiner Anteile lässt sich die anhaltende Brisanz des „Pierrot | |
Lunaire“ kaum erklären: 21 dreizehnteilige Gedichte mit gleichartigem | |
Versaufbau von Albert Giraud, ein wenig rauschhaftes Selbsterleben, ein | |
paar morbide Momente, ein paar milde Provokationen zeitgenössischer Moral, | |
aufgehoben im symbolistischen Kontext und nicht von eigenständigem | |
literarischen Wert, von Otto Erich Hartleben übersetzt, vom | |
zahlenbesessenen Schönberg in drei Siebenergruppen geordnet und für ein | |
siebenköpfiges Ensemble einschließlich Dirigent und Sprechstimme vertont. | |
Mit dem Pierrot ist ein gängiges Motiv in der bildenden Kunst der Zeit und | |
noch mehr im aufkommenden Kunstgewerbe aufgegriffen, eine androgyne Traum- | |
und Clownsfigur, mit der sich trefflich einer in der Zeit oft als | |
bedrohlich empfundenen technischen Rationalität entfliehen lässt. Wo Es war | |
soll Ich werden. | |
## 40 Minuten, die die Welt veränderten | |
In einer damals ungewöhnlichen, eher kammermusikalischen Besetzung formt | |
Schönberg daraus gerade einmal 40 Minuten Musik, die die Welt verändern | |
sollten. Schönberg selbst bildet dabei den expressiven Pol, der die | |
einzelnen Farben der Komposition herausarbeitet und noch einmal den | |
Nachklang und die Erinnerung aufkommen lässt an das Fieber, das die | |
bürgerliche Gesellschaft von der Jahrhundertwende bis in den Ersten | |
Weltkrieg hinein ergriffen hatte. | |
Im Part der Sprechstimme haben die Sopranistin Christine Schäfer 1997 mit | |
Pierre Boulez und die Schauspielerin Barbara Sukowa zuletzt bei den | |
Salzburger Festspielen 2011 Akzente gesetzt. Auch hier zeigt sich wiederum | |
Polarität und Pluralität der Auffassungen, wobei Sukowa paradoxerweise | |
„sängerischer“ wirkt als Schäfer, die unter dem Eindruck der Boulez’sch… | |
Sicht dem Material fast in einem aparten Zeigegestus begegnet, soweit das | |
in den ekstatischen Höhen einzelner „Pierrot“-Teile möglich ist. Ein | |
Vorrang der einen oder anderen Version lässt sich auch hier kaum ausmachen. | |
Das Stück ist auch nach 100 Jahren noch Referenz für zeitgenössisches | |
musikalisches Denken, einschließlich des Scheiterns. Wenn musikalisches | |
Schaffen jenseits der Brauchtumspflege eine Gegenwart haben soll, müsste | |
weit mehr Schönberg gespielt werden. | |
Diesem Gedanken folgt das Arnold Schönberg Center, in Wien Sachwalter für | |
den Nachlass des Komponisten und Statthalter für Neue Musik, in einem | |
örtlichen Musik- und Opernbetrieb, der ihr, wiewohl sie unbestritten schon | |
in die Jahre gekommen ist, noch immer weitgehend ignorant bis feindselig | |
gegenübertritt. | |
## Theodor W. Adorno und Pierre Boulez | |
Eine Ausstellung liefert Originaldokumente und Faksimiles aus der | |
Entstehungsgeschichte des Werks. Gelungen ist die audiovisuelle | |
Aufbereitung: Ein Rundfunkgespräch von Theodor W. Adorno und Pierre Boulez | |
zu „Pierrot Lunaire“ über eineinhalb Stunden aus dem Jahr 1965 oder die | |
Möglichkeit, „Pierrot“-Stücke aus sieben historischen Aufnahmen in den | |
direkten Vergleich zu setzen. | |
Nach der „Pierrot“-Produktion zu den Salzburger Festspielen 2011 trat | |
Barbara Sukowa im Wiener Konzerthaus noch einmal mit dem Stoff an. Anders | |
als in der Salzburger Erarbeitung ohne Dirigent mit einem Ensemble um die | |
Pianistin Mitsuko Uchida begleiten sie nun Mitglieder der Berliner | |
Philharmoniker unter der Leitung von Michael Hasel. Es entfaltet sich ein | |
präziser wie mitreißender Konzertabend in der Intimität eines kleineren | |
Saales vor mancher lichten Reihe und nur beiläufig wahrgenommen im lokalen | |
Feuilleton. | |
Hasel sucht eine zeitgemäße Reflexion über Schönbergs eigenen expressiven | |
Interpretationsansatz. Nach dem einzigen und letzten E-Dur-Akkord, vor dem | |
mehr Musik war als nach einem vierstündigen Opernabend, hebt das Programm | |
noch einmal an zu einem double feature, der Uraufführung von „Moonsongs“, | |
mit denen Uri Caine strukturähnlich und mit einem Baukasten | |
zeitgenössischer musikalischer Mittel auf Schönberg reagiert. | |
Das ist eher eine undankbare Situation. Nach dem „Pierrot“ geht letztlich | |
nichts mehr, aber um eine solche Auseinandersetzung, für sich allein | |
genommen, nachvollziehen zu können, müssten ihn mehr Zuhörer im Kopf haben. | |
## Die Ausstellung „Pierrot lunaire = 100“ läuft im Arnold Schönberg | |
Center, Wien, bis 4. Januar 2013 | |
6 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Uwe Mattheiss | |
## TAGS | |
Adorno | |
Wien | |
Nachruf | |
Zürich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf Komponist Pierre Boulez: Ein Poet der strengen Konstruktion | |
Er war ein gern gescholtener Pionier der Nachkriegsmoderne: Der | |
französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez ist tot. | |
Musiktheater in Zürich „Sale“: Teppichmuster all over | |
Ausverkauf in der Shoppingmall und in der Oper: Christoph Marthaler kehrt | |
nach Zürich zurück. Er fragt, was ist der Warencharakter der Kunst? | |
Philosoph Jean-Luc Nancy: „Kunst kann revolutionär sein“ | |
Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy sprach in Berlin über die | |
Sinnlichkeit der Kunst. Er will weg von den Schubladen, in die Kunst oft | |
gepackt wird. | |
Austellung über Avantgarde-Musiker: Als John Cage nach Bremen kam | |
Die Weserburg zeigt eine Ausstellung über die Besuche des berühmten | |
Komponisten. Eingeladen hatte ihn der Musikchef von Radio Bremen. | |
Essays des Kunsthistorikers Hal Foster: Aufstieg des Spektakels | |
Die Essays des Kunsthistorikers Hal Fosters sind eine Fundgrube | |
scharfsinniger Einsichten zu Kunst und Kunstspektakel. Jetzt liegen sie | |
endlich auf Deutsch vor. |