| # taz.de -- Musiktheater in Zürich „Sale“: Teppichmuster all over | |
| > Ausverkauf in der Shoppingmall und in der Oper: Christoph Marthaler kehrt | |
| > nach Zürich zurück. Er fragt, was ist der Warencharakter der Kunst? | |
| Bild: Sale steht im Schaufenster und spielt auf der Bühne. | |
| „Sale“ ist das allgegenwärtige Lockwort der Shoppingmalls und | |
| Fußgängerzonen. Mit dieser Kurzformel des Dauerausverkaufs hat Christoph | |
| Marthaler am Zürcher Opernhaus nun seinen jüngsten Musiktheaterabend | |
| übertitelt, in dem er hintersinnig über den Warencharakter der Kunst | |
| nachdenkt und den Niedergang einer Kaufhaus-Dynastie in Bildern von | |
| erlesener Tristesse schildert. | |
| Dass Marthaler diesen grandiosen Untergangsabend ausgerechnet in Zürich | |
| inszeniert – wo er vor nun bald zehn Jahren als Schauspiel-Intendant | |
| entnervt das Handtuch warf – und damit am sich neu ausrichtenden Opernhaus | |
| debütiert, entbehrt nicht einer gewissen Delikatesse. | |
| Anna Viebrock hat ein Kaufhaus in der öden Optik der 1970er Jahre auf die | |
| Bühne gebaut: Am Boden ein plastisch gemusterter Spannteppich, in der Mitte | |
| Rolltreppen, Grabbeltische, Spiegelsäulen. Im stummen Vorspiel prüft ein | |
| Mitarbeiter in dem noch menschenleere Kaufhaus die Ramschartikel und stopft | |
| sich einen Slip in die Hosentasche. | |
| Dann setzt sich die Rolltreppe in Bewegung und beschert der | |
| Kaufhausdirektorin in der Gestalt von Anne Sofie von Otter einen | |
| majestätischen, langsam von oben herabgleitenden Auftritt. Sie trägt ein | |
| tantenhaftes Deux-Pièces, in dessen Stoff sich das Muster des Teppichs | |
| verkleinert wiederholt. Das Muster wird noch in vielen Varianten | |
| auftauchen, mal als Krawatte, dann als Futterstoff, sogar der musikalische | |
| Leiter des Abends, Laurence Cummings, trägt das fatale Familienmuster. | |
| ## Ein Schluck aus der Champagnerflasche | |
| Die steife Chefin des offenbar in Liquidation befindlichen Kaufhauses | |
| genehmigt sich erst einmal einen Schluck aus der Champagnerflasche, bevor | |
| das restliche Personal eintrudelt: Familienangehörige eines weit | |
| verzweigten Clans und natürlich der Liquidator. | |
| Was dann auf der Bühne geschieht, ist eine Endlosschleife von leisen, | |
| unendlich detail- und pointenreich inszenierten Szenen der Vergeblichkeit | |
| und des langsamen Abschieds, der schließlich in einem surrealen Begräbnis | |
| am Tresen gipfelt, bei der die Trauergemeinde Waschpulver ins nicht | |
| existente Grab wirft. Vorzugsweise stumm spielt sich das Geschehen ab, die | |
| elf Darsteller ringen mit der Tücke der verschiedensten Objekte, bilden | |
| zuckende Tics und bewerfen sich mit Sockenbündeln. | |
| Das eigentlich verbindende Element des Abends sind 24 Arien, Ensembles, | |
| Chöre und Instrumentalstücke von Georg Friedrich Händel, die Marthaler mit | |
| Laurence Cummings zu einem nur lose zusammenhängenden Pasticcio arrangiert | |
| haben. Dieses Collageverfahren ist historisch legitim, denn zu Händels | |
| Zeiten scherte sich noch niemand ums Urheberrecht und Pasticcios aus | |
| eigenen und fremden Beständen waren an der Tagesordnung. | |
| Dennoch kann man sich fragen, ob aus dem Zusammenhang herauspräparierte | |
| Opernarien nicht doch ihr eigentliches Wesen einbüßen. In diesem Fall wäre | |
| das dann allerdings ein höchst produktives Missverständnis. Denn Laurence | |
| Cummings im Graben des mit historischen Instrumenten stilrein musizierenden | |
| Ensembles La Scintilla zieht mit Marthaler an einem Strang, indem er Händel | |
| als großen Melancholiker deutet. | |
| ## Transparente Chöre und zarte Klagegesänge | |
| Bis an den Rand des Stillstands lotet er die Möglichkeiten dieser Musik | |
| aus, und entlockt dem aus Sängern und Schauspielern geformten Ensemble | |
| transparente Chöre und zarte Klagegesänge. In der darstellerischen | |
| Intensität sind die Sänger von den Marthaler-Schauspielern nicht zu | |
| unterscheiden, und selbst in den bisweilen spektakulär virtuosen Arien | |
| trumpft niemand mit Stargesten auf, weder die hoch gehandelte | |
| Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter noch die nicht minder bekannte Malin | |
| Hartelius. | |
| Einen weiteren Fixpunkt des Abends bildet Edgar Allen Poes Kurzgeschichte | |
| „Die Maske des roten Todes“, die Graham F. Valentine in mehreren Etappen | |
| auf Englisch vorliest. Poes Fabel einer Feudalgesellschaft, die sich vom | |
| Rest der pestverseuchten Welt hinter Mauern rettet und dem roten Tod am | |
| Ende doch nicht entkommt, lässt sich unschwer lesen als Metapher für das | |
| Bollwerk Schweiz, ohne dass freilich der Zeigefinger überdeutlich gehoben | |
| würde. | |
| Am Ende dieses wunderlich zauberhaften Abends gab es viele Bravi, aber auch | |
| geharnischte Buhs. Jene noch an der Kulinarik der Pereira-Ära hängenden | |
| Premierenbesucher müssen sich an das neue Regiepersonal, das der von der | |
| Berliner Komischen Oper nach Zürich gewechselte neue Intendant Andreas | |
| Homoki ihnen nun vorsetzt, wohl erst noch gewöhnen. „Endlich ist hier mal | |
| was los“, hörte man beim Hinausgehen. | |
| 11 Nov 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Regine Müller | |
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