# taz.de -- Philosoph Jean-Luc Nancy: „Kunst kann revolutionär sein“ | |
> Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy sprach in Berlin über die | |
> Sinnlichkeit der Kunst. Er will weg von den Schubladen, in die Kunst oft | |
> gepackt wird. | |
Bild: Ai Weiwei, „Seismograf der politischen Kunst“, kann auch tanzen. Zum … | |
BERLIN taz | Was heißt noch Kunst? Diese Frage, der Jean-Luc Nancy am | |
Donnerstagabend in der Berliner Akademie der Künste nachsann, schien fast | |
populistisch zu sein. Mit solchen Sprüchen wird ja gern zu Zeiten | |
gewitzelt, in denen die Kunst Hochkonjunktur hat und für viele der schmale | |
Grat zwischen Bedeutung und bedeutungslosem Unsinn überschritten ist. Kunst | |
– wozu soll sie gut sein?, heißt es dann meist. | |
Doch weder bekamen die Zuhörer im überfüllten Plenarsaal des Behnisch-Baus | |
am Pariser Platz von dem französischen Philosophen eine einfache Antwort | |
auf diese Frage. Noch wurden sie Zeugen ihrer Verdammnis. Vielmehr wurden | |
sie bei dem Mann, Jahrgang 1940, der sein philosophisches | |
Erweckungserlebnis der Begegnung mit Jacques Derrida verdankt und mit | |
seinem 1992 erschienen Werk „Corpus“ auch in Deutschland zum | |
Kultphilosophen avancierte, Zeugen ihrer Rettung aus dem Geist der | |
Dekonstruktion. | |
Hausherr Klaus Staeck, der Präsident der Akademie, wird es nicht gern | |
gehört haben, als der bedächtige, kleine Mann, der mit einem | |
transplantierten Herzen lebt, auf dem Podium Vorbehalte gegen engagierte | |
Kunst formulierte und den chinesischen Künstler Ai Weiwei einen | |
„Seismografen der politischen Kunst“ nannte. Als er sich von einer Kunst | |
distanzierte, die die Form auf die Struktur reduziere. Und dagegen die Idee | |
von der Kunst als „Haltung des Fühlens“ setzte. | |
Damit wollte Nancy, der zwar langsam, aber perfekt deutsch sprach, nicht | |
zum Kulturkampf blasen. Sondern eigentlich nur weg von den | |
(Begriffs-)Schubladen, in die die Kunst oft gepackt wird. Stattdessen | |
wollte er eine Kategorie in Erinnerung rufen, die bei der derzeit | |
dominierenden Polit- und Konzeptkunst oft vergessen wird: Sinn und | |
Sinnlichkeit. | |
Kunst ist bei Nancy im Grunde nur ein Anwendungsfall dieser Grundsubstanz. | |
Mag sie in Gegnerschaft zur Macht entstehen. Oder in der zu den klassischen | |
Formen. Selbst Ai Weiweis Post eines Nacktfotos im Internet zur „Feier der | |
freien Kommunikation“ – immer bleibe Kunst ein „Appell an unsere | |
Sinnlichkeit“. Das Positive der sinnlichen Erfahrung sei ihre Offenheit und | |
Unabschließbarkeit. Dass sie immer nach vorne strebe. Einen „Gang zwischen | |
außen und innen“ öffne. Kurzum, eine Bewegung ohne Ziel ermögliche. Und | |
gerade nicht endgültiges Verstehen. | |
All das stimmt natürlich. Trotzdem fiel Nancy damit in eine alte Dichotomie | |
zwischen Denken und Fühlen zurück. Als ob Reflektieren keine Leistung der | |
Sinne wäre. Doch dass ein Wert der Kunst in der „Intensivierung der | |
Intensität der Sinne“ liegt, ist unbestritten. Nur der sensitiv Begabte | |
geht kreativ mit der Welt um. Adornos Klage über die „Entkunstung“ der | |
Kunst erfüllt sich für Nancy folgerichtig nicht damit, dass sie massenhaft | |
wird, sondern erst mit dem Verlust des Sensuellen: „Nur wenn es keine | |
Sinnlichkeit mehr gäbe, gäbe es keine Kunst mehr“, dekretierte der sonst | |
gern unentschiedene Denker ungewohnt entschieden. | |
Zwar hatte es mitunter etwas Beklemmendes, diesem Großmeister der | |
Nuancierungen zu lauschen, der sich gern die Bedeutung der Wörter auf der | |
Zunge zergehen lässt. Während vor dem Glaspalast der Akademie der | |
Hungerstreik der Flüchtlinge gegen die deutsche Asylpolitik Züge | |
lautstarker Sinnlichkeit annahm, spürte Nancy den etymologischen Wurzeln | |
des Wortes „exquisit“ nach. Doch es hat durchaus etwas Progressives, wenn | |
er Ai Weiweis Satz, auch politischer Widerstand sei Kunst, zum Schluss | |
korrigierte: „Die Revolution ist nicht künstlerisch, aber die Kunst kann | |
revolutionär sein.“ | |
2 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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