| # taz.de -- Jean-Luc Nancys Buch „Vom Schlaf“: Mehr als ein kurzer Tod | |
| > Der Philosoph Jean-Luc Nancy denkt über den Schlaf nach. Er versucht die | |
| > klassische Körper-Geist-Dualität der Philosophie auszuhebeln. | |
| Bild: „Wer schläft, der sündigt nicht“. | |
| Wenn in späteren Zeiten einmal Kulturgeschichtsschreiber sich über unsere | |
| Epoche beugen, widmen sie vielleicht auch Büchern wie dem jetzt in einer | |
| schönen deutschen Übersetzung vorliegenden Essay „[1][Vom Schlaf]“ des vi… | |
| gelesenen Straßburger Philosophen Jean-Luc Nancy ein Kapitel. Nicht weil in | |
| ihnen wichtige Erkenntnisse zu entdecken wären. | |
| Die fraglichen Bücher sind oft – und das ist nicht negativ gemeint – | |
| erkenntnisarm in einer Weise, wie Gerichte kalorienarm sein können: Sie | |
| versuchen gar nicht erst zu nähren, da Sattheit für sie grundsätzlich nicht | |
| erstrebenswert ist. | |
| Ihre Bedeutung für künftige Historiker liegt in etwas anderem: Sie sind | |
| symptomatisch für das Denken von Menschen, die nicht mehr „zu Gottes | |
| Zeiten“ geboren sind, aber gleichwohl von den großen metaphysischen Themen | |
| sprechen wollen. | |
| Der Derrida-Freund Nancy gehört zu diesen Unentwegten, die weiterhin an das | |
| Geheimnis allen Seins rühren wollen. Nichts ist nun bezeichnender für die | |
| Versiegeltheit in die Immanenz, die unser desillusioniertes spätmodernes | |
| Zeitalter kennzeichnet, als der Umstand, dass Nancy bei seiner Suche nach | |
| einem Nadelöhr, durch das hindurch die philosophische Kontaktaufnahme mit | |
| den tiefen Wahrheiten noch möglich ist, ausgerechnet auf den Schlaf | |
| verfällt. | |
| Damit also auf jenen periodisch wiederkehrenden Zustand, in dem der Mensch | |
| aus dem Projekt Mensch ausgestiegen ist. Dass der aus dem aufrechten Gang | |
| gekippte, fast pflanzenhafte Schläfer nicht ohne Tugend ist, wissen wir | |
| seit Langem dank der Volksweisheit „Wer schläft, der sündigt nicht“. | |
| ## Die Unschuld ins Ontologische erweitert | |
| Nancy erweitert die den Schläfer auszeichnende Unschuld ins Ontologische. | |
| Der Schlaf hat bei ihm – wenn auch mit sehr anderem Ergebnis – ein wenig | |
| die Funktion, die in Heideggers Philosophie die Angst ausübt: Auch er setzt | |
| die alltägliche Erfahrungsweise außer Kraft. Nancys phänomenologische | |
| Ausdeutung zieht der Schlaf auf sich, weil in ihm endlich einmal der Mensch | |
| sich nicht als cartesianisches Subjekt in Position bringt. | |
| So simpel es ist, aber Nancy empfindet den Schlaf als philosophisch | |
| ertragreich, weil der Schlafende die Welt und nicht zuletzt auch sich | |
| selbst verschläft. Der Schlafende erreiche so den paradoxen Modus eines | |
| „Selbst der Selbstabwesenheit“, die „Präsenz einer Abwesenheit“. | |
| Nur noch als ein „Verschwindender“ existierend, hebelt er Nacht für Nacht | |
| die abendländische Fixierung von Erfahrung auf eine Ontologie des | |
| Vorhandenen aus. Nicht mehr sich in Selbstvorstellungen einrahmend, betritt | |
| er sogar das eigentlich prinzipiell unzugängliche Land des „Dings an sich“: | |
| Er ist das „Selbst eines Dings an sich“. | |
| ## Substanzlos gewordene Religiösität | |
| In anderen Passagen seines Buchs riskiert Nancy fast so etwas wie | |
| Mythendichtung: Er konturiert Schlaf und Nacht so zurecht, dass sie zu | |
| Bildern werden für eine späte, eine substanzlos gewordene Religiosität – | |
| eine Religiosität, die nicht an ein göttliches „fiat“ (lat. es werde, es | |
| geschehe) glaubt, sondern an die „Differenz“, die das Reale voneinander | |
| abhebt und so erst real werden lässt. | |
| Der Moment des Einschlafens, wenn die Augen schon geschlossen sind, aber | |
| einen kurzen Moment noch „sehen, dass es nun nichts zu sehen gibt“, kann | |
| dann als die visionäre Erfahrung einer „Kehrseite des Unsichtbaren“ | |
| ausgedeutet werden. Dekonstruktivistische Ablehnung von Präsenz verbindet | |
| sich bei Nancy mit einer Mystik des Nichts. | |
| Zum Charakter des Buchs gehört auch, dass Nancy sich oft vom Wortmaterial | |
| der Sprache inspirieren lässt. Das ist nicht immer rational; Philosophieren | |
| entgleitet mitunter in den Schlaf der Vernunft. Aber in einen Schlaf der | |
| Vernunft, der nicht Goyas eulenhafte Gespenster gebiert, sondern schöne | |
| Gespinste: poetische Satzgeflechte, in denen der Schlaf – statt in sich | |
| Träume zu generieren – selbst zum Gegenstand einer philosophischen | |
| Träumerei geworden ist. | |
| 7 Jul 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.diaphanes.net/titel/vom-schlaf-1326 | |
| ## AUTOREN | |
| Christof Forderer | |
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