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# taz.de -- Französischer Philosoph Nancy: Frei von Gott
> Jean-Luc Nancy ist einer der originellsten lebenden Denker Frankreichs.
> Sein aktuelles Buch widmet sich der "Dekonstruktion des Christentums".
Die Generation der französischen Philosophen in der Nachfolge von Gilles
Deleuze oder Jacques Derrida wird aus noch ungeklärten Gründen in
Deutschland bisher wenig zur Kenntnis genommen. Auch den im Jahr 1940
geborenen Jean-Luc Nancy, dessen Werk erst seit einigen Jahren vermehrt ins
Deutsche übersetzt wird, gibt es hierzulande noch zu entdecken.
In den vergangenen Tagen hatte man in Berlin mehrfach Gelegenheit zur
Annäherung an den charismatischen Intellektuellen, dessen Denken sich
gegenwärtig um Themen wie Christentum und Monotheismus dreht. An der
Humboldt-Universität hielt Nancy eine Mosse-Lecture über die "Anbetung" und
sprach im Hebbel-Theater mit dem Literaturwissenschaftler Joseph Vogl über
sein vor kurzem auf Deutsch erschienenes Buch "Dekonstruktion des
Christentums".
Nancy, der als Professor in Straßburg lehrte, ist ein zutiefst politischer
Denker. In seinem Werk umkreist er immer wieder den Begriff der
Gemeinschaft, so auch in seinem bekanntesten Buch "Die undarstellbare
Gemeinschaft", wobei für ihn stets fraglich bleibt, ob "Politik zu einer
Gemeinschaft führen kann". Auch das Christentum denkt Nancy in engem
Zusammenhang zur Sphäre des Politischen, hier schwebt ihm eine
"Neuerfindung der Laizität" vor: "Die Politik soll den Raum öffnen und
bewahren, um einen Zugang zur Spiritualität zu ermöglichen, sie selbst soll
aber keinerlei spirituelle Positionen vertreten."
Diese Trennung war für Nancy nicht immer selbstverständlich. Als der
Philosoph Michel Foucault die islamische Revolution im Iran 1979 als
Wiederkehr der Spiritualität begrüßte, sympathisierte Nancy mit Foucaults
Begeisterung: Ihn faszinierte die "Idee der Souveränität eines gesamten
Volkes", wie er im Gespräch mit Joseph Vogl einräumte. Wenig später kamen
ihm Zweifel, ob es richtig sei, wenn Politik zugleich spirituell ist. Die
Theokratie des Iran jedenfalls sei den Beweis ihrer Vereinbarkeit mit der
Demokratie bis heute schuldig geblieben.
Doch auch bei einer "politischen Theologie", wie sie der Staatsrechtler
Carl Schmitt entwickelte, liegt für Nancy kein Segen drauf. Schmitts
Vorstellung, in der Politik fänden sich sämtliche theologischen Begriffe
säkularisiert, funktioniere nicht wirklich. Die Beziehung zu Gott als etwas
Abwesendem ginge verloren, stattdessen würden Begriffe wie Abwesenheit und
Unendlichkeit durch Souveränität ersetzt, für die nach Schmitt gilt, dass
"souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet". Hier verweigert
Nancy dem Juristen die Gefolgschaft: "Gott kann nicht über den
Ausnahmezustand entscheiden."
Was der Politik fehle, sei eine "Zivilreligion" im Sinne Rousseaus: "das
Element, in dem sich nicht nur die bloße Rationalität des Regierens
entfalten könnte, sondern die unendlich höhere und weitere Rationalität
eines Gefühls, ja einer Leidenschaft des Zusammen-Seins hinsichtlich oder
gemäß der eigenen Existenz".
In seiner "Dekonstruktion des Christentums" fordert Nancy die Öffnung von
Philosophie und Christentum füreinander. Er will indes nicht die Vernunft
mit dem Glauben an Gott versöhnen, sondern verfolgt das Ziel einer
"gegenseitigen Aufschließung des Erbes der Religion und der Philosophie".
Wesentlicher Ausgangspunkt dieser Denkbewegung ist der "Vernunftglauben"
Kants, dessen Pointe gerade nicht in einer Öffnung der Philosophie für die
Gläubigkeit bestand, sondern im "Glauben der Vernunft".
Nancy möchte daran anknüpfend einen Prozess initiieren, in dem das
philosophische Denken über das Rationale hinausgeht, ohne zum Irrationalen
zu führen. So gebe es im Christentum etwas, das "über das Christentum
hinausgeht". Damit habe sich Religion "von sich selbst entkleiden und zum
Humanismus werden können". Die wahre Parole des Christentums findet Nancy
in Meister Eckharts Bitte an Gott, er möge ihn "von Gott frei machen".
In genau gleicher Weise soll die Philosophie lernen, die Vernunft hin zum
alogon, dem rational "Unzugänglichen", zu überschreiten. Eine Möglichkeit
dazu sieht Nancy in der Anbetung, in der sich eine Entfernung auftue, eine
Öffnung, die einen Raum erschließe, der Nähe möglich macht. Was nach
paradoxer Mystik klingen mag, ist nichts anderes als eine verbale
Annäherung an das alogon. Die Anbetung selbst stellt diese Beziehung zum
Unzugänglichen als Akt her. So muss man vielleicht auch die kreisenden
Denkbewegungen Nancys, mit denen er sich seinem Thema nähert, als ein
Beispiel für diese Anbetung nehmen, die der Vernunft den Weg über sich
selbst hinaus weisen will.
15 Feb 2009
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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