# taz.de -- Analyse von Jacques Lacan: Haben Sie Verkehr? | |
> Drei Philosophen analysieren die These „Es gibt keinen | |
> Geschlechtsverkehr“ des Analytikers Jacques Lacan. Dabei handelte es sich | |
> um mehr als eine verbale Laune. | |
Bild: Es gibt keinen Gechlechtsverkehr? Es gibt kein Geschlechterverhältnis! | |
Gezielt gesetzte Provokationen verfehlen selten ihre Wirkung. Besonders | |
dann, wenn es sich um einen Satz handelt, der sich so gar nicht mit der | |
gewöhnlichen Alltagserfahrung in Einklang bringen lassen will. „Es gibt | |
keinen Geschlechtsverkehr“, lautet eine berühmte Formulierung des | |
französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan, die man allemal als | |
kontraintuitiv bezeichnen könnte. | |
Dass es sich bei diesem „Axiom“ Lacans um mehr als eine verbale Laune des | |
oft schwer zugänglichen Theoretikers handelt, demonstrieren zwei | |
philosophische Neuerscheinungen, die sich schon im Titel auf Lacans These | |
berufen: „Es gibt keinen Geschlechtsverkehr“ von Alain Badiou und Barbara | |
Cassin nebst „Es gibt – Geschlechtsverkehr“ von Jean-Luc Nancy laden als | |
Minikontroverse ein, zu erkunden, was es mit dem Satz auf sich haben mag. | |
Um grundsätzlichen Missverständnissen vorzubeugen: Lacan wollte nie | |
ernsthaft bestreiten, dass das, was mit dem Ausdruck „Geschlechtsverkehr“ | |
bezeichnet wird, tatsächlich geschieht. | |
Im Original ist der Satz denn auch weit mehrdeutiger. So lässt sich „Il n’y | |
a pas de rapport sexuel“ ebenso als „Es gibt kein Geschlechtsverhältnis“ | |
lesen. Jean-Luc Nancy gibt als weitere Bedeutung von „rapport“ noch | |
„Bericht“ an. Denn Lacan geht es vor allem um etwas, das man die | |
„sprachliche Nichtdarstellbarkeit“ des Geschlechtsverhältnisses nennen | |
kann. | |
Will man genauer erklären, was es mit der These auf sich hat, dass sich das | |
Geschlechtsverhältnis nicht beschreiben lässt, wird es kompliziert. Sehr | |
allgemein könnte man sagen, dass sich das Geschlechtsverhältnis und damit | |
die sexuelle Differenz für Lacan auf einer Ebene abspielen, die von der | |
Sprache nur unzureichend erfasst wird. | |
## Kein Verhältnis der Geschlechter | |
Für Lacan gibt es daher kein direkt darstellbares Verhältnis der | |
Geschlechter zueinander. Viele der Fragen, die Nancy, Cassin und Badiou in | |
ihren Beiträgen aufwerfen, kreisen um diesen Knotenpunkt in Lacans These. | |
Die Aristoteles-Expertin Barbara Cassin zeichnet nach, dass Lacan sein | |
Axiom in Abgrenzung zu Aristoteles’ Logik formuliert, in der der Satz des | |
ausgeschlossenen Widerspruchs als oberstes Prinzip dient. | |
Während dieser Satz die Eindeutigkeit des Sinns von Aussagen voraussetze – | |
andernfalls ließe sich ein klarer Widerspruch der Form „A und Nicht-A“ gar | |
nicht ausdrücken –, sei die Sprache für Lacan in Wirklichkeit viel zu | |
mehrdeutig für Eindeutigkeit. Sprache gilt Lacan gar als Integral der | |
Äquivoke, also aller Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen und Vagheiten, die das | |
Sprechen mit sich bringt. | |
So wenig nun eine auf Eindeutigkeit des Sinns beruhende Logik nach dem | |
Muster des Aristoteles für Lacan möglich ist, so wenig können für ihn | |
Geschlechtsverkehr oder das Geschlechtsverhältnis „geschrieben“ werden. Wie | |
Badiou hervorhebt, ist „das Geschlecht“ vielmehr durch „Ab-Sinn“, die | |
Abwesenheit von Sinn, bestimmt. Mit Logik passt das genauso schlecht | |
zusammen wie mit einer sinnvollen Beschreibung – eine Einsicht, zu der die | |
Philosophie laut Badiou überhaupt nicht fähig sei. | |
## Keine abstrakten Gedankenspiralen | |
Fernab aller Begriffsjongliererei schimmert der Zweck des Anliegens durch, | |
wenn Badiou daran erinnert, dass es Lacan weniger um abstrakte | |
Gedankenspiralen als um die Praxis seiner analytischen Erfahrung gegangen | |
sei. Diese öffne einen Raum „zwischen Sinn und Nicht-Sinn“, der für die | |
Analyse notwendig sei. Mit Eindeutigkeit oder einem beschreibbaren | |
Geschlechtsverhältnis kommt man dort allem Anschein nach nicht weiter. | |
Um die Tragweite dieser These nachzuvollziehen, wäre ein klinischer Exkurs | |
erforderlich, den jedoch weder Badiou noch Cassin leisten wollen, was ihre | |
Texte recht hermetisch erscheinen lässt. Und Nancy gibt gleich eingangs zu | |
verstehen, dass er weder die theoretische noch die klinische Kompetenz | |
mitbringe, um Lacans These immanent herauszuarbeiten. | |
Im Klartext heißt das: Nancy stellt Lacan komplett auf den Kopf. Zunächst | |
konstatiert er, dass es keinen Geschlechterunterschied gebe, sondern bloß | |
„das sich differierende Geschlecht“. Dieses sich differierende Geschlecht | |
müsse als ein Verhältnis gesehen werden, als ein „Sich-Verhalten“. Und so | |
kulminieren seine Überlegungen in der Feststellung „Das Sexuelle ist das | |
’Es gibt‘ des Verhältnisses.“ Wobei er einräumt, das Verhältnis bleibe… | |
offene Frage. Bis auf Weiteres, kann man leicht verwirrt resümieren, gibt | |
es wohl auch Geschlechtsverkehr. | |
## "Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Zwei Lacanlektüren". Aus dem | |
Französischen von Judith Kasper. Diaphanes, Berlin 2012, 128 Seiten, 15 | |
Euro | |
## "Es gibt - Geschlechtsverkehr". Aus dem Französischen von Judith Kasper. | |
Diaphanes, Berlin 2012, 96 Seiten, 10 Euro | |
17 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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