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# taz.de -- Debatte über migrantisierte Literatur: Die Rückseite der Worte
> Braucht es einen „Turkish Turn“ in der deutschen Literatur? Der
> Bachmann-Wettbewerb hallt nach.
Bild: Deniz Utlu trägt beim Ingeborg Bachmann Preis 2023 in Klagenfurt seinen …
„Diese Schöpfungen, die du aus deinem eigenen Körper ausgraben wirst,
werden als Türkisch registriert.“ [1][Die autofiktionale Ich-Erzählerin] in
Emine Sevgi Özdamars Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ (2021) weiß,
dass die Literaturkritik der Sprache ihrer Texte Fremdheit zuschreiben
wird.
Mehr als 30 Jahre, nachdem ihr der Bachmannpreis verliehen wurde, las Deniz
Utlu am letzten der diesjährigen Tage der deutschen Literatur vor. Die
Abwertungen einiger Jury-Mitglieder hallen eine Woche später noch nach,
denn sie werfen Fragen nach Rezeptionsmustern von migrantisierter Literatur
auf.
Über 6.000 Kilometer voneinander entfernt verfolgten wir live die
Diskussion über ästhetische Beurteilungen und literaturkritische Wertungen.
Welche Eigenschaften und stilistischen Merkmale von Utlus Text lassen in
diese Folgerungen münden? Inwiefern wurde die Diskussion von
Erwartungshaltungen an den Text und dessen Themen geleitet, als Klaus
Kastberger beispielsweise konstatiert, dass es „ein bisschen Wildheit für
diese Themen [braucht]“?
Die Juror*innen sind sich darin einig, dass die Sprache in Utlus Text
„Damit du sprichst“ zentral ist: der Ich-Erzähler, der in der zweiten
Generation von Eingewanderten in Deutschland lebt, und dessen Bezug zur
Sprache; die Sprachlosigkeit seines sterbenden Vaters, der nur „mit seiner
Augenzunge“ kommunizieren kann; die Unmöglichkeit des Sprechens mit der
Mutter.
Und schließlich das Ausbuchstabieren der Geschichte, das von der Jury
bemängelt wird, während es eigentlich den Versuch, zu einer Sprache und zum
Sprechen zu finden, performativ darstellt.
## Deutsche Versäumnisse
Es ist Bachmann-Jurorin Mithu Sanyal, die die Frage nach Utlus Referenzen
nach drei Tagen, in denen die Diskussion in erster Linie um deutsche und
österreichische Vorbilder kreiste, einbringt. Der [2][Hinweis auf Yaşar
Kemals] „Memed mein Falke“ („İnce Memed“, 1955) biete andere literaris…
Themen und Muster, führt Sanyal aus. Auch Fatma Aydemirs „Dschinns“ (2022)
schaffe Vorbilder und Identifikationsmöglichkeiten, schließt Insa Wilke an.
Wie Sanyal andeutet, bleibt es ein Versäumnis dieses Landes, dass es das
Werk des weltberühmten kurdischen Schriftstellers und Aktivisten und seine
Bedeutung als Romancier für die türkische und die Weltliteratur nicht
würdigt, obwohl die Entstehungs- und Übersetzungsgeschichte von Kemals Text
die Literaturszene in Deutschland vor mehreren Jahrzehnten prägte. Im Jahr
1982 veröffentlichte Yüksel Pazarkaya die Essaysammlung „Rosen im Frost.
Einblicke in die türkische Kultur“, in der er Kemal porträtiert.
Dank der Arbeit von nach Deutschland emigrierten Übersetzer*innen und
Verleger*innen, wie Yıldırım Dağyeli oder Helga Dağyeli-Bohne, sind
Übertragungen der „Memed“-Tetralogie ins Deutsche entstanden. Nâzım Hikm…
dessen Werk in den 1970er Jahren anhand verschiedener Publikationen und
Ausstellungen in Westdeutschland von türkeistämmigen Kulturschaffenden
eingeführt und zugänglich gemacht wurde – in der DDR gehörte er bereits zum
literarischen Kanon an Schulen –, hat Yaşar Kemals Roman ins Russische
übersetzt.
Allein die fehlende Bekanntheit dieses Autor*innen-Kollektivs, das sich
über die Arbeit am Werk Kemals formte, spricht Bände über die
problematische und homogene Kanonbildung in Deutschland, die das
literarische Schaffen nicht-weißer Autor*innen ausgrenzt.
Ironischerweise ist es Deniz Utlu, der in einem Essay aus dem Jahr 2011 von
den Archiven der Migration, den vergessenen Wissens- und
Bibliotheksbeständen, die bundesweit verstreut sind, erzählt und der Frage
nachgeht, wie marginalisierte und gelöschte Positionen sicht- und hörbar
gemacht werden können.
## Neuschöpfungen werden exotisiert
Über den Neologismus der plastischen „Augenzunge“ tritt Utlus Text in
Dialog mit Özdamars Erzählband „Mutterzunge“ (1990). Dass im Türkischen …
sowohl „Zunge“ als auch „Sprache“ bedeutet, hat die Büchner-Preisträg…
in ihrer gleichnamigen Kurzgeschichte gezeigt. Schon damals wurden
Neuschöpfungen in ihrem Werk bemängelt oder exotisiert. In einem Text mit
dem Titel „Damit du sprichst“ wären mündlich tradierte Erzählformen, die
der deutschen Sprache fern liegen, als Muster naheliegend.
Außerdem stellt der Textauszug eine Verbindung zu Utlus vorangegangenen
Romanen, wie „Die Ungehaltenen“ (2014), her, der eine ganz andere Form der
Sprachlosigkeit zwischen einem Sohn und seinem verstorbenen Vater aufzeigt
und auch das Verhältnis der zweiten zur ersten Generation literarisch
thematisiert.
In der Diskussion über migrantisierte Literatur werden allzu oft homogene
Lesegemeinschaften imaginiert und einander gegenübergestellt: Die einen
würden ihn, Kemal, nicht kennen. Für die anderen würde er wahrscheinlich in
jedem Bücherschrank stehen, so Insa Wilke. Ist die Schlussfolgerung, die
sich hier ziehen lässt, dass die Herkunft von Autor*innen Leserschaften
festlegen, etwa analog zur andauernden Reduktion von migrantisierten
Autor*innen auf die literarische Verarbeitung von Migration?
## Eine türkische Wende
In den USA erregte das Schreiben von aus der Türkei nach Deutschland
eingewanderten Autor*innen schon vor mehreren Jahrzehnten
Aufmerksamkeit, während man in Deutschland mit den Kategorisierungen
Ausländer-, Betroffenheits-, Gastarbeiter- oder Migrantenliteratur rang.
Literaturwissenschaftlerin Leslie A. Adelson plädierte für einen Turkish
Turn, eine türkische Wende, in der deutschen Gegenwartsliteratur und schlug
eine neue Grammatik der Migration vor, um diese Texte auf ihre Fähigkeit
der Neukonfigurationen des nationalen Archivs der deutschen Kultur des 20.
und 21. Jahrhunderts hin zu untersuchen.
Utlus Bachmann-Text, ein Auszug aus dem bald erscheinenden Roman „Vaters
Meer“, gibt Anlass für das Nachdenken über ineinandergreifende
kurdisch-türkisch-deutsche Geschichte(n) und Literatur(en). Neben Yaşar
Kemal finden sich darin Hinweise auf die verschwiegene kurdische Geschichte
der Mutter und des Großvaters oder die kurdische Stadt Mardin nahe der
syrischen Grenze. Wenn der Protagonist von einem kurdischen Dichter aus dem
Irak erzählt, der in Hannover im Exil lebt, schreibt sich zudem eine
kurdisch-arabische Geschichte in die deutsche Literaturgeschichte ein.
Auf die Rückseite der Worte schaut Deniz Utlu in der gleichnamigen Mainzer
Poetikdozentur, die er 2021 innehatte. Darin reflektiert er über den
Schreibprozess: ab der Entstehung des literarischen Textes bis zu den
etablierten Anerkennungsstrukturen im Literaturbetrieb. „Die Wahrhaftigkeit
des Schreibens“, so Utlu, „liegt paradoxerweise oftmals jenseits der
verwendeten Worte, vielleicht auf ihrer Rückseite […].“ Ob man sich in
Klagenfurt verweigerte, auf die Rückseite der Worte zu schauen?
11 Jul 2023
## LINKS
[1] /Buechnerpreis-fuer-Emine-Sevgi-Oezdamar/!5890166
[2] /Nachruf-auf-Yasar-Kemal/!5018478
## AUTOREN
Maha El Hissy
Ela Gezen
## TAGS
Literatur
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Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
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