| # taz.de -- Nachruf auf Yasar Kemal: Der Junge aus dem Dorf | |
| > Der große türkische Rebell und Schriftsteller Yasar Kemal ist im Alter | |
| > von 91 Jahren gestorben. Selbst verfolgt, gab er Unterdrückten eine | |
| > Stimme. | |
| Bild: Der Autor und Menschenrechtsaktivist war eine lebende Legende. | |
| Es war dieses Bild, das sich von Yasar Kemal in seinen letzten Jahren | |
| einprägte. Gestützt auf den Arm eines Freundes, den großen Körper nur noch | |
| mühsam vorwärts bewegend, kommt er dennoch zu jeder wichtigen | |
| Protestveranstaltung. Sei es, dass ein anderer Autor wegen „Beleidigung des | |
| Türkentums“ angeklagt war, sei es, dass Studenten die es wagten gegen die | |
| Regierung zu protestieren, ins Gefängnis sollten, Yasar Kemal war immer da. | |
| Er machte kein Aufheben um seine Person, setzte sich in seinen letzten | |
| Jahren nicht mehr aufs Podium, aber allein seine Anwesenheit war für alle | |
| eine große Ermutigung. | |
| Diese wird zukünftig fehlen. Am Samstag ist der wohl wichtigste | |
| Schriftsteller der Türkei nach langer Krankheit mit 91 Jahren gestorben. Er | |
| war eine lebende Legende: als Schriftsteller, als Menschenrechtsaktivist, | |
| als Versöhner. Einer, der den Unterdrückten eine Stimme gab, selber | |
| verfolgt und eingesperrt wurde, und zuletzt doch über alle | |
| gesellschaftlichen Schranken hinweg als großer Humanist verehrt und | |
| anerkannt wurde. | |
| Geboren wurde Yasar Kemal im Jahr der Gründung der türkischen Republik 1923 | |
| in einem Dorf in der Cukurova, der heißen Baumwollebene am Mittelmeer in | |
| der Provinz Adana. Seine Eltern waren aus einem kurdischen Dorf bei Van auf | |
| der Suche nach Arbeit in die Baumwollgebiete gezogen. Yasar Kemal, der mit | |
| bürgerlichem Namen Kemal Sadik Gökceli hieß, wuchs unter hauptsächlich | |
| turkmenische Familien auf. Zu Hause sprachen sie kurdisch, im Dorf | |
| türkisch, der Junge war zweisprachig. Als er fünf Jahre alt war, wurde sein | |
| Vater bei einem Streit unter Nachbarn erschossen. | |
| Yasar Kemal war fasziniert von den Geschichtenerzählern, die damals über | |
| die Dörfer zogen und die Leute mit Volkslegenden unterhielten. Er eiferte | |
| ihnen nach, schrieb selbst Gedichte, sammelte Volkslieder. Seine erste | |
| Veröffentlichung war eine Sammlung von Klageliedern der Bauern aus den | |
| Baumwollfeldern in der Cukurova. Das harte Leben in den Plantagen hat ihn | |
| für immer geprägt. Obwohl er durch Bildungshunger und Sprachbegabung aus | |
| dem dörflichen Milieu hinauswuchs, erst nach Adana, dann nach Istanbul zog, | |
| ist seine literarischen Arbeit doch mit dem Leben der einfachen Menschen | |
| verbunden. | |
| ## Lebende Legende | |
| Während er an seinen ersten Büchern schrieb, arbeitete er als Journalist | |
| bei der Zeitung Cumhuriyet, profilierte sich mit Reportagen über | |
| Arbeitskämpfe und Geschichten vom Land. Seine erste Erzählung „Bebek“ | |
| (Deutsch: „Das Baby“) veröffentlichte er in Cumhuriyet Anfang der 50er | |
| Jahre. 1954 folgte ebenfalls als Fortsetzungsroman „Memed mein Falke“. Das | |
| Buch erschien ein Jahr später und wurde ein Welterfolg. Mit „Memed mein | |
| Falke“ hat Yasar Kemal dem Typus des ländlichen Widerständlers, der im | |
| Aufbegehren gegen den Großgrundbesitzer das Dorf verlässt und in die Berge | |
| geht, ein literarisches Denkmal gesetzt. Im türkischen heißen diese | |
| Rebellen „Eskiya“. | |
| Was in Deutschland „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist und in | |
| England „Robin Hood“ ist, ist für die Türkei „Memed mein Falke“. Der | |
| personifizierte Rebell gegen eine bedrückende Obrigkeit. Yasar Kemal hat | |
| fast ein Leben lang an dem Memed-Zyklus gearbeitet. Vier „Memed“-Bände sind | |
| erschienen, der letzte 2003. Er hat Dutzende weitere Bücher geschrieben, | |
| zuletzt eine Trilogie über den türkisch-griechischen Bevölkerungsaustausch | |
| und die Vertreibung der Griechen aus Istanbul in den 50er Jahren. Doch sein | |
| Werk wird zuerst mit dem Eskiya „Memed dem Falken“ verbunden bleiben. | |
| Wie viele große Literaten des 20. Jahrhunderts hat auch Yasar Kemal | |
| versucht, seine Ideale in direkter politischer Arbeit umzusetzen. Ein Jahr | |
| nach dem „linken“ Militärputsch von 1961, der eine sehr freiheitliche | |
| Verfassung hervorbrachte, wurde die Türkische Arbeiterpartei, „Türkiye Isci | |
| Parti“ (TIP), gegründet. Yasar Kemal war dabei. Neun Jahre lang engagierte | |
| er sich in der Partei, bis er entnervt aufgab, weil, wie er später einmal | |
| sagte, die Bürokratie die Partei von den Arbeitern entfernte. | |
| ## Literat und Sozialist | |
| Er wollte sich auch nicht an der Sowjetunion oder China orientieren. Seiner | |
| Meinung nach musste jedes Land seinen eigenen Sozialismus hervorbringen. Er | |
| verstand darunter vor allem Freiheit: die Freiheit des Individuums, die | |
| Freiheit der Kultur und die Freiheit von materieller Bedrückung. Dreimal | |
| wurde er verhaftet und ins Gefängnis gesperrt. | |
| Das Leben von Yasar Kemal ist undenkbar ohne seine Frau Tilda. Sie stammte | |
| aus einer angesehenen Istanbuler jüdischen Familie. Ihr Großvater war | |
| Leibarzt von Sultan Abdülhamid. Es war eine Liebesheirat über enorme | |
| gesellschaftliche Unterschiede hinweg: der kurdische Junge aus dem Dorf mit | |
| der jüdischen Tochter aus der großbürgerlichen Istanbuler Familie. Die | |
| beiden waren 50 Jahre verheiratet, bis Tilda 2001 starb. Sie war die | |
| weltgewandte Kosmopolitin, die seine Bücher ins Englische übersetzte, ihn | |
| in die Welt der Literatur einführte. | |
| Yasar Kemal war mehrmals für den Literaturnobelpreis nominiert und für | |
| viele wäre es einleuchtender gewesen, wenn Yasar Kemal statt Orhan Pamuk | |
| der erste Nobelpreisträger der Türkei geworden wäre. Er bekam stattdessen | |
| weltweit andere wichtige Preise, darunter 1997 den Friedenspreis des | |
| Deutschen Buchhandels. Seine damalige Rede, in der er die Unterdrückung der | |
| Kurden scharf kritisierte, brachte ihm zu Hause noch einmal eine Anklage | |
| ein, was weltweit skandalisiert wurde. Doch obwohl Kemal sich damals für | |
| die Kurden einsetzte, war er trotz eigner Herkunft nie ein kurdischer | |
| Nationalist. Er blieb bis an sein Lebensende ein humanistischer Sozialist. | |
| Sein Tod hat in der Türkei große Trauer ausgelöst. Über alle Parteigrenzen | |
| hinweg wurde der Verlust beklagt. Über Twitter forderten viele die | |
| offizielle Ausrufung einer Staatstrauer, was Präsident Erdogan dem | |
| Sozialisten Yasar Kemal allerdings versagte. Wahrscheinlich hätte dieser | |
| das sowieso nicht gewollt. | |
| 1 Mar 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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