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# taz.de -- Roman von Emine Sevgi Özdamar: Leben unter vollen Segeln
> Viele Jahre nach ihrem letzten Werk meldet sich Emine Sevgi Özdamar
> zurück. „Ein von Schatten begrenzter Raum“ ist ein reicher, wirbelnder
> Roman.
Bild: „Als ich über die Brücke lief, wackelte sie wie früher“: Meereseng…
Ziemlich in der Mitte dieses langen, verschlungenen Romans der Erinnerung
und der Vergegenwärtigung geht die Erzählerin in Istanbul über die Brücke
am Goldenen Horn. Was folgt, sind einige Seiten konzentrierter, funkelnder,
nein: geradezu funkensprühender Stadtbeschreibungsprosa. „Als ich über die
Brücke lief, wackelte sie wie früher.“ So geht es los. Dann kommen
Straßenverkäufer in den Blick, die Schiffe, die Möwen, die Stimmen der
Menschen, die engen Straßen, Radiostimmen, die Schatten der Menschen,
rennende Kinder, fahrende Züge, eine atemlose Collage einzelner Eindrücke.
„Stimmen, Schatten, alles war Istanbul.“
Von dieser Szene aus lassen sich Bögen schlagen. Zurück etwa in das Werk
dieser 1946 geborenen Autorin. [1][„Die Brücke vom Goldenen Horn“ hieß der
1998 erschienene Roman], ihr bislang letzter, dessen großer Erfolg Emine
Sevgi Özdamar endgültig auch einem breiten Lesepublikum bekannt gemacht
hatte, bevor sie, auch weil sie sich in den 23 Jahren seitdem rargemacht
hat und wenig von sich hören ließ, wieder ein bisschen vergessen wurde.
Aber vielleicht lag dieses Wiedervergessen auch an den Einordnungen. Neben
der Anerkennung ihrer großen erzählerischen Kraft lief in der gesamten
Karriere dieser Schriftstellerin stets das Etikett der migrantischen
Autorin mit, was bei aller Wertschätzung irgendwo auch ausdrückte: Nice to
have, aber literarisch niemand aus der ersten Reihe. Weshalb sich ihr Werk
nicht im deutschsprachigen Kanon festhaken konnte. Völlig zu Unrecht.
Bögen schlagen lassen sich aber auch innerhalb des Romans. Denn
[2][Istanbul] ist in dieser Szene alles andere als eine vertraute Heimat.
In ihr steckt ein Staunen über diese Stadt, eine ästhetische Einstellung
ihr gegenüber, die nur hat, wer in ihr nicht fraglos zu Hause ist. Die
Hauptfigur jedenfalls, wir befinden uns jetzt Anfang der 70er Jahre, ist
schon weggewesen. Vor den türkischen Nationalisten ist sie nach Berlin
ausgewichen, dann lebte sie eine Zeit lang in Paris, dann wieder in Berlin.
Zurückkommen in die Türkei musste sie wegen Passformalitäten. Und Istanbul
sieht sie jetzt mit Augen, die vorher Berlin und Paris gesehen haben.
Solche Perspektiven sind wichtig in diesem Roman: Es sind nicht die
heimatlichen Verbindungen, es sind die Lebenserfahrungen, die die Blicke
leiten.
Um Missverständnisse zu vermeiden, muss man gleich hinzufügen, dass hier
kein Gegensatz zwischen der Türkei und Europa aufgemacht wird. Vielmehr
sind Paris und Berlin auch ganz unterschiedliche Städte, und es geht
Özdamar immer wieder darum, wie sich Erfahrungen verschränken. Den
türkischen Militärputsch der 70er Jahre versteht sie mit einem Wort [3][des
Berliner Dichters Thomas Brasch]: Vor den Vätern sterben die Söhne. Die
Pariser Lebendigkeit steht im Kontrast zu den von den türkischen
Nationalisten „getöteten“ Istanbuler Straßen. Aber, andere Perspektive,
sowohl in Paris als auch in Istanbul kann man der Sehnsucht nachhängen,
nicht aber in Berlin. Berlin ist eine Stadt, „die der Sehnsucht ständig
eins ins Gesicht haute“. Und zwischendurch ist Özdamars Erzählerin in jeder
dieser drei Städte und überhaupt an jedem Ort, an dem sie sich befindet,
anders fremd.
## Ein weites Ausholen
„Ein von Schatten begrenzter Raum“ holt weit aus und ist streckenweise ein
wilder Erzählfluss von 760 Seiten, an dem, so heißt es, Emine Sevgi Özdamar
zehn Jahre lang gearbeitet hat. Er umfasst den Zeitraum von den frühen
Siebzigern bis nahezu heute; [4][die Pariser Bataclan-Morde] werden ebenso
erwähnt wie aktuelle Ereignisse in der Türkei. Erinnerungen überstürzen
sich, verschachteln sich. Es bilden sich thematische Cluster, etwa um die
Erlebnisse am Theater oder in der noch geteilten Stadt Berlin. Die Sprache
kann dabei geradezu körperliche Gestalt annehmen, etwa wenn die Erzählerin,
es muss ein Schock gewesen sein, die noch kriegsbeschädigten Häuser im
damals „müden“ Berlin sieht. Das sind für sie die „Boom-Häuser“, wor…
hundertmal „boom“ aneinanderreiht.
Man zögert, das Buch einen historischen Roman zu nennen. Zwar ist vieles in
ihm längst tief vergangen und von historischem Edelrost überzogen, die
Sicht auf Kreuzberg etwa, die Ernsthaftigkeit, mit der Brecht verehrt wird,
oder die Nouvelle-Vague-Emphase, die noch über den Paris-Episoden liegt.
Doch es geht hier nicht darum, eine vergangene Epoche zu schildern.
Vielmehr ist alles an diesem Buch auf Vergegenwärtigung ausgerichtet,
darauf, die angesammelten Erlebnisse dieses reichen Lebens in die Gegenwart
zu ziehen.
Besonders beeindruckend ist das beim ersten Paris-Aufenthalt gelungen. In
Berlin hatte die Schauspielerin die Erfahrung gemacht, dass sie als Türkin
ständig auf das Bild [5][einer kopftuchtragenden Putzfrau] festgelegt wird.
„Du landest in der türkischen Schublade“, so heißt es einmal. In Paris nu…
sie wirkt an Benno Bessons Inszenierung von Brechts „Kaukasischem
Kreidekreis“ mit, landet sie mitten in der Boheme. In der internationalen
Szene von Künstlern, Exilanten und Tagedieben erfährt sie „dieses
leuchtende Leben“. Paris ist hier ein reines Brausen. Gleichzeitig spricht
sie zuerst noch kein Wort Französisch. Wie sie sich diese Sprache durch
Nachahmung aneignet, das erzeugt auch beeindruckende Textpassagen.
Das Brausen verdichtet sich in einer beeindruckenden Bettszene – um
Verliebtheiten geht es auch immer wieder –, in der die Autorin die
Auflösung und Verschlingung der Körper so drängend und gleichzeitig so
lässig beschreibt, dass man selbst so etwas Abgenudeltes wie die Bilder
Picassos noch einmal wie neu vor seinem inneren Auge sieht – die Liebe
„klebte mein rechtes Auge neben sein rechtes Auge, meinen halben Mund fand
ich plötzlich neben seiner halben Wange …“. Auch die Fotos von Ara Güler
hat man, wenn man das Buch liest, wieder vor Augen, die Chansons von Edith
Piaf im Ohr, ach, Lust hat man, mal wieder Brecht zu lesen, am Meer zu
stehen.
Es ist, alles in allem, keine „migrantische“ Erfahrung, die hier evoziert
wird, und auch kein Leben „zwischen den Kulturen“, oder jedenfalls lässt
sich das Buch nicht darauf festlegen. Eher geht es um so etwas wie
Aufbruch, ein Leben unter vollen Segeln, um Entdeckungen, um Menschen, die
man trifft, Zimmer, in denen man sich befindet, Türen, die aufgehen und
sich schließen. Und dann allerdings auch immer wieder darum, dass so ein
Leben an Grenzen stößt und verhindert wird.
Ihre glückliche Zeit begreift die Erzählerin als Phase, in denen die „Hölle
eine Pause macht“. Die Hölle, das sind hier etwa der türkische
Militärputsch von 1971 oder die islamistischen Terroranschläge aus jüngerer
Zeit. So wird der Roman streckenweise auch zu einem Buch der Empörung und
der Trauer. Die Gegenwart, das lässt sich deutlich herauslesen, ist nicht
unbedingt Emine Sevgi Özdamars favorisierte Zeit.
Es ist ein reicher Roman über ein reiches Leben. Er dreht sich um eine
einzelne Frau, um ihre Erlebnisse, ihre Erfahrungen, die Wörter, die sie
findet, um sie zu beschreiben, und zugleich wirbeln die vergangenen fünfzig
Jahre in ihm herum.
19 Oct 2021
## LINKS
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[5] /Internationaler-Tag-der-Putzfrau/!5457919
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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