# taz.de -- Bachmann-Preis 2023: Klassenhass bricht sich Bahn | |
> Beim 47. Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis war alles anders. Mit | |
> Valeria Gordeev wird die Autorin eines sehr sauberen Texts ausgezeichnet. | |
Bild: Gewinnerin des mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preises: Valer… | |
Wer wissen will, wie sehr diesmal alles anders ist, der könnte sich zum | |
Beispiel die kurzen Porträtfilme dreier Autor*innen ansehen. Sie waren | |
auf der Website der 47. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt | |
zu sehen, wo im Wettbewerb um den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis fünf | |
Tage lang zwölf Autor*innen jeweils eine halbe Stunde ihre Texte | |
vortrugen, um sich anschließend eine weitere halbe Stunde lang von einer | |
siebenköpfigen Jury erzählen zu lassen, was gut oder schlecht war an ihrem | |
Text. | |
Der Porträtfilm über den deutsch-polnischen Autor Martin Piekar muss zuerst | |
erwähnt werden. Er sitzt mit seinen langen Haaren und schwarz lackierten | |
Fingernägeln in einer dunklen Wohnung mit Raufasertapeten an einem kleinen | |
Küchentisch. Die Wohnung erinnert sehr an den „Eltern-Kind-Wohnraum mit | |
zweieinhalb Zimmern“ aus seiner Erzählung „Mit Wänden sprechen/Pole sind | |
schwierige Volk“, der von einer alkoholkranken Mutter und ihrem | |
heranwachsenden Sohn berichtet. | |
Jurymitglied Thomas Strässle charakterisiert ihn zu Recht und mit | |
weitgehender Zustimmung der Kolleg*innen als „unförmigen, ungeglätteten, | |
ungezähmten Text“: Genau das ist das Neue und das Hoffnungsvolle an diesem | |
Festival. Es sagt viel, dass Piekar gleich zwei Preise erhält: den mit | |
10.000 Euro dotierten Kelag-Preis und den Publikumspreis. | |
Und dann die Porträtfilme über die diesjährige Gewinnerin des mit 25.000 | |
Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preises [1][Valeria Gordeev] und die | |
Gewinnerin des mit 12.500 dotierten Deutschlandfunk-Preises, die | |
österreichische Psychologin und Autorin Anna Felnhofer. Gordeev beim | |
Spaziergang durch den Park, beim Füttern der Rehe auch, dazu klar | |
artikulierte Worte wie die dezidierte Bildungssprache von „Apparatur“ bis | |
„zürnend“ und das Nachdenken über Verknappung. | |
## Es atmet Ruhe und Zurückgelehntheit | |
Anna Felnhofer, die auch erfolgreiche Wissenschaftlerin und Psychologin | |
ist, sitzt dagegen am Schreibtisch eines geschmackvoll eingerichteten, | |
hellen Raums mit Parkett, großen Fenstern und Grünpflanzen. Und auch, wenn | |
nicht gewiss ist, ob dies die echten oder imaginäre Autorinnen sind: Alles | |
an diesen Frauen atmet nicht nur Schriftstellerin, sondern auch | |
Zurückgelehntheit und Ruhe. | |
Die Filme suggerieren, dass diese Autorinnen unter ganz anderen | |
Voraussetzungen schreiben als andere. Ihre Erzählungen „Er putzt“ und | |
„Fische fangen“ ähneln sich auf seltsame Weise. Die eine berichtet mit | |
großer Präzision und bis zum kleinsten Detail von der Gewalt, die ein | |
Reinlichkeitsfanatiker dem Schmutz anzutun in der Lage ist, die andere von | |
Jugendlichen, die einen Mitschüler verprügeln – und das nur, weil er | |
gesichtsblind ist und sie einfach nicht erkennt. Beide Texte werden von der | |
Jury zu Recht als komplex und konzentriert beschrieben, doch auch leise, | |
zweifelnde Töne sind zu hören. | |
Alle drei Texte – der von Piekar wie auch die von Gordeev und Felnhofer – | |
handeln von Gewalt, sie sind hoch spannende Analysen der Ursachen und der | |
Folgen von Gewalt. Doch liegen Welten nicht nur dazwischen, wie sie diese | |
behandeln, sondern auch, wie sie heute besprochen werden. | |
Piekars Text ist offenbar unter existenziellem Druck entstanden, er weiß, | |
was Traumata sind. Nicht alles, was er schreibt, ist kalkuliert, durchdacht | |
und stringent. Gordeevs und Felnhofers Texte kommen dagegen daher, als | |
hätten sie mit großer Beiläufigkeit nur einen winzigen Teil ihrer riesigen | |
Ressourcen an Zeit und Wissen angezapft. | |
## Rechtschreibung ist nicht alles | |
Trotz der Entscheidung der Jury am Ende kommen in Klagenfurt immer wieder | |
die interessantesten Fragen auf: Wie sollen diese Texte heute überhaupt | |
noch bewertet werden? Können wir noch behaupten, dass nur der Text zählt | |
und nicht die Herkunft und die Ausstattung seiner Autor*in? Es ist die | |
Vielfalt der zwölf Lesenden in Klagenfurt dieses Jahr, es sind aber auch | |
Jurorinnen wie Insa Wilke und [2][Mithu Sanyal], die darauf bestehen: | |
Korrekte Rechtschreibung und schöne Metaphern sind nicht alles. | |
Hegemoniales Denken im Literaturbetrieb hat auch bei diesem Wettlesen viel | |
zu lange zum Ausschluss vieler Menschen geführt. | |
Es ist gewissermaßen der Streit der Juror*innen um weniger perfekte | |
Texte, der sich wie eine tiefe Schneise durch dieses sehr lebendige | |
Wettlesen zieht. Immer wieder klafft sie auf: Beim Autor, Übersetzer und | |
Spoken-Word-Künstler Jayrôme [3][Robinet] beispielsweise, der seit 23 | |
Jahren in Deutschland lebt und seit 13 Jahren als Mann. | |
Er erzählt in seinem Text über Herkunft und Gewalt, die besonders aus Sicht | |
eines Menschen mit „Variationshintergrund“, wie er sagt, überall ist. Weil | |
er aber auch die heilende Kraft der Liebe und der Literatur beschwört, wird | |
ihm von zwei der Juror*innen vorgeworfen, er sei „auf der formalen | |
Ebene“ nicht subversiv genug. | |
Insa Wilke verteidigt: Es komme eben auch auf die Haltung und die | |
befreiende Kraft eines Textes an, und Mithu Sanyal besteht darauf, wie | |
wertvoll es sei, dass Texte ihre Leser*innen mitnehmen. Ein anderes | |
Beispiel für diese Schneise: Die in Berlin lebende britische Autorin | |
Jacinta Nandi liest einen vergnüglichen Text über eine Gewaltbeziehung, was | |
an sich ja schon mal ein ziemliches Kunststück ist. | |
Aber nein: Wieder fehlt es einigen Juror*innen an Genauigkeit (Mara | |
Delius), Philipp Tingler, der immer wieder fast schon verzweifelt zum | |
„Runterkühlen“, zu mehr Vernunft und vermeintlich echter Literaturkritik | |
aufruft, zweifelt gar am „Vermögen der sprachlichen Formung“ dieses Texts. | |
## Sinnieren über die Familiengeschichte | |
So richtig schön eskaliert dann das Ganze, als am Samstag der im | |
ukrainischen Charkiw geborene und seit 1999 in Deutschland lebende Autor | |
Yevgeniy Breyger seinen Text „Die Lust auf Zeit“ liest – vielleicht einen | |
der besten Texte dieser ganzen Veranstaltung. Ein Ich-Erzähler sitzt im | |
Krankenhaus und kann das Zimmer, in dem der kranke Vater liegt, nicht | |
betreten. | |
Stattdessen sinniert er in der unendlich sich dehnenden Zeit im Wartezimmer | |
über seine Familiengeschichte: den Urgroßvater, der vor den Augen von Frau | |
und Kindern lebendig begraben wird, weil er die Briefe an die Ehefrau im | |
Hemdkragen der Schmutzwäsche aus dem Gulag geschmuggelt hat; den Großvater, | |
der im Krieg ein Bein verliert. | |
Wie zu erwarten findet Philipp Tingler den Text zu gängig und „beinahe | |
etwas beliebig“. Da platzt Insa Wilke fast der Kragen und überaus | |
erfrischender Klassenhass bricht sich Bahn. „Für mich steht hier ein | |
Elefant im Raum“, poltert sie und erinnert endlich an die starke | |
Eröffnungsrede der ukrainisch-österreichischen Autorin Tanja Maljartschuk | |
am Mittwochabend. Der Text von Breyger, so Wilke, verhandele vieles, aber | |
vor allem eine Sache, die ihr sehr wichtig sei. „Nämlich, was ist ein | |
Mensch?“ Dieser Text, meint sie, handle davon, dass es Menschen gebe, die | |
einfach die Tür zum Krankenzimmer aufmachen können und andere, denen dies | |
unmöglich sei. | |
Sie hat recht, Tanja Maljartschuk sprach in ihrer Rede von den Zweifeln an | |
einer Sprache, die einerseits zum mächtigen Werkzeug der Propaganda werden | |
kann und andererseits erbärmlich hilflos ist, wo Krieg herrscht. Von der | |
Ungerechtigkeit, dass sich manche Menschen mit solchen Wirklichkeiten | |
konfrontieren müssen und andere völlig unberührt lässt. | |
Viel mehr als ein Familientrauma beschreibt Breyger das Zögern. Er denkt | |
über die Voraussetzungen nach, wie man über Dinge wie diese sprechen kann. | |
Es ist eine große Enttäuschung, dass nicht Breyger den | |
Ingeborg-Bachmann-Preis erhält, sondern Valeria Gordeev mit ihrem | |
kunstvollen, aber letztlich sehr sauberen Text. | |
2 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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