# taz.de -- Literatur in Krisenzeiten: Die Freiheit liegt in Trampelpfaden | |
> Die richtigen Worte zu finden fällt oft schwer, bei Krisen scheint es | |
> unmöglich. Autoren aus Georgien, Ukraine und Estland diskutierten in | |
> Berlin. | |
Bild: Im Dombass: nur ein schmaler Pfad führt zu den Vorposten der ukrainische… | |
Dem Unaussprechlichem nur mit Sprachlosigkeit begegnen zu können, ist ein | |
Schicksal, das seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs viele | |
ukrainische Schriftsteller:innen teilen. | |
Juri Andruchowitsch schreibt nicht mehr, [1][Andrej Kurkow] nur noch über | |
den Krieg, und auch Tanja Maljartschuk lebt in Angst vor einer Sprache, die | |
zugleich lieben und zum Töten anstiften kann. Sie betrachte sich daher, | |
[2][so sagte Maljartschuk in ihrer Eröffnungsrede zum diesjährigen | |
Ingeborg-Bachmann-Preis,] „als eine gebrochene Autorin, eine ehemalige | |
Autorin“. | |
Ebenfalls zu den ehemaligen Autor:innen zählt Ganna Gnedkova. Ihr falle | |
es schwer, zu fiktionalisieren, während die Realität sich gerade so grausam | |
zeige wie in der Ukraine, sagt sie bei einer Gesprächsrunde über Literatur | |
in Krisenzeiten am Sonntagabend im Konzerthaus Berlin. | |
Gnedkova spricht perfektes Deutsch, ihre Heimatstadt Kyjiw, in der sie 1992 | |
geboren ist, hat sie bereits vor acht Jahren verlassen, um in Wien zu | |
leben. Sie erzählt von in Österreich gegebenen Interviews, von Talkshows, | |
in denen sie neben Wirtschaftsvertretern sitze, die über steigende | |
Heizkosten debattierten. Auch sie spreche dann von Zahlen, sagt sie. „Von | |
Totenzahlen.“ | |
## Im Rahmen des Festivals „Young Euro Classic“ | |
Die Autorin ist mit der russischen Sprache aufgewachsen. Dass das | |
Ukrainische, seit 1991 einzige offizielle Amtssprache im Land, lange keine | |
Bedeutung für sie spielte, macht sie in einem Essay deutlich, den die | |
Schauspielerin [3][Ursina Lardi] vorträgt. | |
Ukrainische Autor:innen, erinnert sie sich, habe man auf ihrem russischen | |
Gymnasium eher bemitleidet, anstatt stolz auf sie zu sein. Erst während | |
ihres Studiums lernte sie die ukrainische Literatur kennen, lernte, dass | |
Ukrainisch keine tote Sprache, „kein Latein“ sei. Eine Drehung um 180 Grad: | |
[4][Auf Russisch, sagt sie heute, werde sie nie mehr schreiben können.] | |
Die Diskussionsrunde im Berliner Konzerthaus findet im Rahmen des | |
[5][„Young Euro Classic“] statt. Das Festival lädt alljährlich | |
Jugendorchester aus aller Welt ein, um in der deutschen Hauptstadt ihr | |
Repertoire aus Orchestermusik, Jazz und neuen Werken aus ihren | |
Herkunftsländern vorzuführen. „Courage in Concert“ setzt innerhalb des | |
Festivals einen Fokus auf die Ukraine und ihre Nachbarn im Krieg. | |
## Keine Ruhe in Polen, Belarus, Moldau und Georgien | |
Ruhig geht es in den Nachbarländern der Ukraine nämlich keineswegs zu: | |
[6][Polen verstärkt seit Wochen seine Einheiten an der Ostgrenze,] um den | |
Provokationen Belarus’ – im polnischen Luftraum kreisende Hubschrauber, dem | |
Aufgebot von Wagner-Truppen – etwas entgegenzusetzen. Belarus wird | |
weiterhin (und seit beinahe 30 Jahren) von [7][Alexander Lukaschenko] | |
regiert, dem treuesten Gefolgsmann Putins. In der kleinen Republik Moldau | |
fürchtet man indes, [8][als Nächstes zum Ziel russischer Aggressionen zu | |
werden.] | |
Über das Schwarze Meer hinweg ist im weitesten Sinne auch Georgien ein | |
Nachbar der Ukraine. [9][In der ehemaligen Sowjetrepublik leide man seit | |
über 200 Jahren unter dem russischen Imperialismus,] sagt Dato Turaschwili. | |
Als es 2008 zum offenen Krieg mit Russland kam – Grund war die Eskalation | |
des [10][Konflikts um Südossetien und Abchasien] –, habe das in Europa kaum | |
jemanden interessiert, meint der Schriftsteller. Es scheine, als hätte es | |
erst den brutalen Krieg gegen die Ukraine gebraucht, um die Welt von der | |
Aggressivität Russlands zu überzeugen. | |
## „Young Euro Classic“ ohne Russland | |
Turaschwili, im Auftreten charismatisch, haftet trotzige Resignation an, | |
ein Abdruck der Enttäuschung, die sich auch in seinem Essay, vorgetragen | |
vom Schauspieler Holger Bülow, widerspiegelt. Er erinnert an den | |
russisch-amerikanischen Dichter Joseph Brodsky, der einst unverzeihlich | |
flapsig zu Protokoll gab, die Russen hätten von dort, wo sie | |
einmarschierten, stets „gute Literatur mitgebracht“. | |
Der 1996 gestorbene Brodsky hatte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion zum | |
knallharten Nationalisten gemausert. Sein Schmähgedicht auf die Ukraine | |
wurde in Russland 2014 erneut zum wichtigsten Gedicht des Jahres erklärt. | |
Russland ist bei „Young Euro Classic“ in diesem Jahr nicht vertreten. Die | |
Liste der ehemaligen Sowjetrepubliken erweitert sich in diesem Jahr jedoch | |
um Usbekistan. Neben Carl Maria von Webern und Frédéric Chopin intonierte | |
das Jugendorchester aus Taschkent im Anschluss an die Diskussionsrunde auch | |
zeitgenössische Klassik. Die gab sich expressionistisch, kamen in Mustafo | |
Bafoevs „Sogdian Frescos“ doch enthusiastisches Xylophonspiel, Eulengeheul | |
und eine Maultrommel zum Einsatz. | |
## Das Phänomen der „desire paths“, wörtlich: „Wunschpfade“ | |
[11][Historisch wie wirtschaftlich unterhält Usbekistan enge Beziehungen zu | |
Russland.] Doch sein Land fühle mit der Ukraine mit, versichert Autor und | |
Journalist Sharif Ahmedov, der Usbekistan infolge der brutal | |
niedergeschlagenen Unruhen von 2005 verließ. Ihn habe die Literatur | |
gerettet, sagt er, sich an die ersten Tage seines Exils in den Niederlanden | |
erinnernd, als er begann, Autoren wie Jorge Luis Borges oder Andrei | |
Platonow ins Usbekische zu übersetzen. | |
Literarisch überzeugen konnte an diesem Abend vor allem Sveta Grigorjeva. | |
Die estnische Autorin führt als Beispiel für menschliche Willenskraft das | |
Phänomen der „desire paths“ an, „Wunschpfade“ also, die mit „Trampel… | |
unzureichend übersetzt wären. „Desire paths“ bilden sich demnach neben | |
offiziellen Wegen, meist uneben ins Gras gefurcht, den schnellsten Weg zum | |
Ziel weisend. | |
Manchmal, schreibt Grigorjeva, sei der kürzeste Weg jedoch bereits der | |
vorbetonierte – und trotzdem, aus Trotz eben, entstünden „desire paths“, | |
aus dem Bedürfnis heraus, im Abseits, im Dunkeln zu gehen. Die Mehrheit der | |
Russ:innen heute würde dem betonernen Narrativ des Kreml folgen, das die | |
Welt in Gut und Böse einteile. Ein Leben ohne die Möglichkeit von „desire | |
paths“ aber, gibt sie zu bedenken, sei ein Leben in Unfreiheit. Mitunter, | |
so argwöhnt sie, führe es direkt in die Hölle. | |
23 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Autor-Andrej-Kurkow-im-Gespraech/!5882776 | |
[2] /Bachmannpreis-in-Klagenfurt/!5943896 | |
[3] /Milo-Rau-an-der-Schaubuehne-Berlin/!5718549 | |
[4] /Ukrainer-lehnen-Russisch-ab/!5886598 | |
[5] https://young-euro-classic.de/ | |
[6] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5953640 | |
[7] /Lukaschenko-in-Belarus/!5950218 | |
[8] /Warnung-vor-Umsturz-in-Moldau/!5916047 | |
[9] /Russischer-Einfluss-in-Georgien/!5935536 | |
[10] /Krieg-im-Kaukasus/!5177753 | |
[11] /Reise-durchs-postsowjetische-Usbekistan/!5921342 | |
## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Literatur | |
Orchester | |
Georgien | |
Polen | |
Moldau | |
Russland | |
Belarus | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Russland | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Polen | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Reportage aus der Ukraine: Freiheit des Wortes | |
Unsere Autorin reiste auf Einladung des PEN Ukraine in das vom Krieg | |
beherrschte Land. PEN-Mitglieder dort bringen sich durch ihre Arbeit in | |
Gefahr. | |
Lesung von Viktor Jerofejew: Ein Volk verloren gegeben | |
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew las in Berlin aus seinem | |
kommenden Roman. In „Der Große Gopnik“ geht es um den Aufstieg Putins. | |
Kriegsfotografie aus der Ukraine: Im Leiden anderer erstarren | |
Die Wanderausstellung „Russian War Crimes“ gibt Einblick in ein | |
kriegsgebeuteltes Land. Zu sehen ist sie derzeit in der Berliner | |
Humboldt-Universität. | |
Essay über Ukraine und EU: Europa und die koloniale Mentalität | |
Der Widerstand der Ukrainer gegen Russland spricht gegen das Prinzip | |
sogenannter „Einflusssphären“. Die EU muss ihr koloniales Denken | |
überdenken. | |
Reise nach Polen: Gabriele, wir fahr’n nach Łódź! | |
Eine Schönheit war die polnische Stadt Łódź nie. Doch die einstige | |
Textilmetropole mit ihren imposanten Backsteinbauten „revitalisiert“ sich. | |
Russische Botschaft in Moldau: Spionage-Vorwürfe gegen Diplomaten | |
45 russische Mitarbeiter der russischen Botschaft müssen Moldau verlassen. | |
Auf dem Dach des Gebäudes wurden verdächtige Antennen gefunden. | |
Bachmann-Preis 2023: Klassenhass bricht sich Bahn | |
Beim 47. Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis war alles anders. Mit | |
Valeria Gordeev wird die Autorin eines sehr sauberen Texts ausgezeichnet. | |
Literaturfest München: Wo ist der russische Brecht? | |
Das Literaturfest München stand unter dem Eindruck des Krieges in der | |
Ukraine. Autoren kommen direkt von der Front. |