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# taz.de -- Autor Andrej Kurkow im Gespräch: „Wir Ukrainer sind hoch motivie…
> Andrej Kurkow glaubt fest an den Sieg über Putins Russland. Sein
> aktueller Roman „Samson und Nadjeschda“ blickt humorvoll in die
> Geschichte.
Bild: Autor Andrej Kurkow gehört zu den prominentesten Stimmen seines Landes
taz am wochenende: Herr Kurkow, nach Russlands Überfall auf die Ukraine
veröffentlichten wir Auszüge aus Ihrem Tagebuch. Sie berichteten von Ihrer
dramatischen Flucht aus Kiew. Wie ist Ihre Situation heute?
Andrej Kurkow: Bis zum Sommer sind meine Frau und ich überwiegend in
Uschgorod gewesen. Das ist im Westen der Ukraine, im Dreiländereck zu
Slowakei und Ungarn.
Warum dort?
Wir haben unsere Tochter in den ersten Kriegstagen hierher zur Grenze
gebracht. Ein Freund hat uns dann eingeladen, hier bei ihm zu bleiben. Eine
ältere Frau, eine Bekannte von ihm, hat uns den Schlüssel zu ihrer Wohnung
gegeben. Sie selber war zu ihrer Tochter gezogen. Unser älterer Sohn hilft
als Freiwilliger bei medizinischen Transporten.
In Uschgorod?
Ja. Die medizinische Lage in der Ukraine ist schwierig. Chronisch Kranke
müssen aus der Ukraine über die Grenzen nach Deutschland oder Polen verlegt
werden. Unser jüngerer Sohn ist aber inzwischen nach Kiew zurückgekehrt.
Ebenso unsere Tochter, die einige Jahre in London gelebt hat. Sie wollen
unbedingt in der Ukraine bleiben.
Und Sie wollen nicht zurück nach Kiew?
Für mich ist es anders. Von Uschgorod aus kann ich gut ins Ausland reisen.
Mit dem Auto zu Veranstaltungen, in die Slowakei oder nach Rumänien. Und
auch fliegen. Von Kiew ist das derzeit schwer möglich.
Als wir uns nach dem russischen Überfall schrieben, waren Sie auf dem Weg
zu Ihrem Sommerhaus bei Kiew.
Damals wurde leider auch dort, bei Lazarivka, 90 Kilometer von Kiew
entfernt, gekämpft. Im Nachbardorf von Lazarivka waren die Russen schon.
Dieses Dorf wurde fast komplett zerstört. [1][Es war zu gefährlich, um in
der Region zu bleiben.]
Seit 24. Februar herrscht Krieg in der Ukraine. Eine lange Zeit. Wie
erleben Sie persönlich die Situation heute?
Erst einmal: ich bin sehr glücklich, dass die Ukraine weiter existiert und
kämpft. Dass die ukrainische Armee es geschafft hat, Tausende
Quadratkilometer zurückzuerobern und von Russland zu befreien. Aber es ist
noch lange nicht zu Ende. Wohl erst mit Putins Tod. Er wird nicht aufgeben,
er kann nicht mehr zurück.
Putin hat gerade die Teilmobilmachung ausgerufen.
Ich bin stolz Ukrainer zu sein. Wir Ukrainer sind hoch motiviert, unser
eigenes Land zu verteidigen. Die russischen Soldaten haben außer Geld wenig
Motivation. Und jetzt will das russische Regime viele neue Soldaten an die
Front bringen, oft unter Zwang und schlecht ausgebildet. Es ist eine
Tragödie. Sie sollten desertieren. Die Volksabstimmungen in den russisch
besetzten Gebieten sind ein Witz. Sie wollen Ukrainer zwingen, auf Ukrainer
zu schießen.
Haben Sie selber Schauplätze der Kämpfe besucht? Orte, aus denen die
russischen Invasoren zurückgeschlagen wurden?
Nein, dieses Mal nicht. Nach dem vorherigen Krieg 2014 schon. Da war ich
dreimal in Kriegsgebieten im Donbass und bin einmal die ganze Länge der
Frontlinie bis zur russischen Grenze abgefahren. Aber ich verfolge
sämtliche Nachrichten. Facebook, Youtube und andere Messengerdienste
funktionieren. Und ich spreche regelmäßig mit den Freunden in den
verschiedenen Regionen der Ukraine, etwa auch in Charkiw.
Auch unmittelbar von der Front?
Aus der Nähe. Ich habe zum Beispiel Kontakt mit einem Autor im russisch
besetzten Mariupol. Er versteckt sich dort in einem Haus. Seine alte Mutter
ist nicht transportfähig. Er konnte sie nicht alleine zurücklassen und ist
bei ihr geblieben.
Was berichtet er Ihnen?
Die Russen durchkämmen die Stadt auf der Suche nach ukrainischen
Aktivisten. Sie gehen mit Adresslisten herum. Leute werden verhaftet,
verschwinden.
US-Präsident Joe Biden schwört die Demokratien auf einen langen Abwehrkampf
in der Ukraine ein. Kann die Ukraine diesen Krieg gewinnen?
Ja.
Sind Sie sicher?
Ja. Putins großes Russland muss jetzt schon Munition von Nordkorea kaufen.
Von Usbekistan. Und Drohnen aus dem Iran. Sie haben schon über 50.000
gefallene Soldaten. Und diese Mobilmachung jetzt wird den Krieg in
Russlands Alltag und die Wohnzimmer vieler Familien bringen.
Sie wurden in Leningrad, dem jetzigen Sankt Petersburg, geboren. Dann zog
Ihre Familie in die Ukraine. Was kriegen Sie aus Russland heute mit?
Direkte Kontakte sind schwierig. Oppositionelle Intellektuelle sind zum
größten Teil im Ausland. Was man so offiziell im Internet von russischen
Autoren lesen kann, ist unglaublich. Beschämend. Die meisten schweigen über
den Krieg, freuen sich über neue Projekte, Bücher und Geld vom Staat.
Es gibt [2][auch andere wie Irina Scherbakowa.]
Ja, oder auch Vladimir Sorokin und Michail Schischkin. Alles Leute, die
schon vorher gegen Putins Regime waren. Die meisten sind im Exil. Aber es
kommen kaum mehr neue dazu.
Lassen Sie uns über Ihren neuen Roman sprechen. „Samson und Nadjeschda“
spielt im Jahre 1919, als Russen in Sowjetuniformen in Kiew die Macht
übernahmen. Wie kamen Sie auf diesen historischen Stoff?
Vor vier Jahren bekam ich einen Anruf einer Leserin. Sie sagte, sie habe
ein Geschenk für mich. Sie übergab mir eine Menge an Originalakten des
bolschewistischen Geheimdienstes, von den Sowjets aus der Zeit in Kiew nach
1919.
Wie kam die Frau an diese Dokumente?
Ihr Vater arbeitete für den KGB, den sowjetischen Geheimdienst. Er wollte
wohl selber etwas Wissenschaftliches schreiben. Doch er starb. Die Frau
wollte in die USA emigrieren und übergab mir vorher diese Dokumente. Mich
fasziniert diese Phase der Geschichte, die Revolution, die ukrainische
Unabhängigkeit und dann die Sowjetisierung. Bei der Lektüre dieser Akten
wusste ich sofort: Hier habe ich die Basis für eine Serie von
Kriminalromanen. Natürlich ist alles im literarischen Sinne erfunden, aber
durch die Akten bekam ich eine bessere Einschätzung der damaligen Zeit.
Sie schrieben den Roman „Samson und Nadjeschda“ vor dem jetzigen
Kriegsausbruch. Wie nah ist die historische Realität von 1919 an der von
2022?
Ich glaube, es gibt viele Ähnlichkeiten. Mit dem Sturz des russischen
Zarenreichs 1917 versuchte sich die Ukraine unabhängig zu machen. Doch die
Bolschewiki waren dagegen. Sie griffen viermal an. Es ging hin und her.
1919 eroberten die Bolschewiki Kiew erneut, bis sie 1921 die ganze Ukraine
in die Sowjetunion eingliederten. Die ukrainische Intelligenz, die Eliten,
viele wurden getötet; Geschäfte, Wohnungen geplündert. Es war wie bei einem
Genozid.
Ihr Buch setzt mit einer dramatischen Szene in Kiew 1919 ein: Ein Reiter
schlägt ihrer Hauptfigur Samson das Ohr ab und erschlägt den Vater auf
offener Straße.
Ja, wir kennen diese Rechtlosigkeit und Willkür aus der Geschichte. Aber
auch die Zufälle, die wie bei Samson und Nadjeschda aus der Situation
heraus zu neuen Konstellationen führen. Es ist immer reizvoll zu sehen, wie
der Mensch weiterlebt und zu ganz unterschiedlichen Schlüssen kommt. Ein
Teil versucht inmitten des Verbrechens und in fast schon surrealen Momenten
so wie Samson die Würde zu bewahren.
Fast hat es auch den Anschein als suchten Sie in Ihrem historischen Roman
[3][nach dem „offenen Moment“ in der Geschichte?]
Als Samson von den Rotarmisten in seiner Wohnung bedrängt wird, helfen ihm
andere. Einfache Menschen, aber auch der Zufall und anständig gebliebene
Vertreter der neuen Macht. Feuerwehr, Rettung, Polizei, die müssen zu allen
Zeiten immer funktionieren. Wohin die Geschichte treibt? Oft wissen wir es
nicht. Hinterher scheint es logisch, aber in Kiew 1918/19 war es das nicht.
In höchster Not wird Samson schließlich selber zum Ermittler. Dabei
verleiht ihm das abgeschlagene Ohr einen magischen, übernatürlichen Sinn.
In Krieg und Krise muss man ganz schnell, ganz viel Neues lernen. Es geht
ums Überleben. Man muss permanent Grenzen überqueren, auch seine eigenen.
Überall lauern Gefahren. Aber auch positive Überraschungen. Samson, gerade
noch ausgeraubt und schon fast tot, wird Ermittler. Nicht Geheimpolizist:
Polizist. Sonst würden auch Samson und Nadjeschdja nicht zueinander finden
können. Die Geschichte wäre zu Ende. Aber sie ist es nicht.
Ist es Ihnen derzeit möglich, weiter an Ihren Romanen zu schreiben?
Noch nicht. Ich habe seit dem russischen Überfall jede Menge Artikel und
Essays veröffentlicht, Interviews gegeben. „Samson und Nadjeschda“ habe ich
vor dem 24. Februar geschrieben. Ebenso den Folgeband, der auf Deutsch noch
nicht erschienen ist. Die Arbeit am dritten kann ich derzeit nicht
fortsetzen. Der Krieg lässt mir dazu keine Ruhe. Aber ich hoffe, die
Ukraine bekommt die Waffen, die sie braucht, um sich zu verteidigen. Dann
könnte dieser Krieg auch schneller zu Ende gehen und es würden weniger
Menschen sterben.
2 Oct 2022
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## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
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