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# taz.de -- Historikerin über Architektur im Krieg: „Boom an patriotischen T…
> Was macht der Krieg mit der Stadt? Forscherin Iryna Sklokina über
> Erinnern, Widerstand – und ob die komplexe Architekturgeschichte der
> Ukraine neu zu deuten ist.
Bild: Konstruktivistisch, stalinistisch: der im März bombardierte Bau der Regi…
taz: Iryna Sklokina, die Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und
Saporischschja wurden am vergangenen Freitag von Russland scheinannektiert.
Ist in ihren Städten irgendein Widerstand sichtbar?
Iryna Sklokina: Das einzige große Zentrum, das nach der vollständigen
Invasion besetzt wurde, ist Cherson. In den ersten Monaten gab es dort
massive proukrainische Kundgebungen. Jetzt gibt es eine aktive
Untergrundbewegung. Plakate und Flugblätter zeigen diesen halb versteckten
Kampf im öffentlichen Raum. Proukrainische und dann wieder prorussische
Wandbilder werden gemalt und wieder übermalt.
Menschen scheinen auch mit bestimmten Modecodes wie
ukrainisch-volkstümlichen Mustern ihrem Protest Ausdruck zu verleihen.
Oder mit Tätowierungen. In der Ukraine gibt es derzeit einen Boom an
patriotischen Tattoos. Das ist aber sehr gefährlich in den besetzten
Gebieten. Findet das russische Militär bei den üblichen Personenkontrollen
ein Tattoo oder irgendein Objekt, das sich auf die Ukraine bezieht, drohen
Folter und selbst Mord. Als das Massengrab in Isjum freigelegt wurde, fand
man an einer Leiche ein blau-gelbes Armband. Das löste eine heftige
Reaktion in den sozialen Medien aus: Menschen posteten ihre eigenen
blau-gelben Armbänder.
Objekte wie Armbänder werden zu verbindenden Symbolen des Kriegs?
Ja. Wie die Gegenstände auf den Gräbern der Opfer oder auch Teile von
militärischer Ausrüstung wie Waffen oder Kappen. Ohnehin haben die Gräber
das Landschaftsbild verändert, auf beiden Seiten. Richtige Beerdigungen
sind in den besetzten Gebieten nicht möglich. Die Menschen müssen ihre
Angehörigen in Innenhöfen, manchmal auf Kinderspielplätzen begraben. Das
erinnert an den Vernichtungskrieg der Nazis, als man die vielen Leichen
einfach liegen ließ. Die Opfer des Holocaust zum Beispiel wurden nach 1945
häufig nicht würdig umgebettet. In Sowjetzeiten mangelte es dafür an
Ressourcen und am Willen, das sozialistische Projekt richtete sich
schließlich gen Zukunft. Noch heute suchen in der Ukraine wie auch in
Russland NGOs nach Überresten der Opfer, man findet sie in Wäldern oder im
Garten, wenn man Kartoffeln anpflanzen will. Und jetzt überlagern sich die
alten und neuen Schichten der Toten.
Putin sieht eine gemeinsame Vergangenheit von Russland und der Ukraine als
Legitimation für seine Invasion. Aber in diesem Krieg lässt er das
kulturelle Erbe vielmehr ganz zerstören, das russisch-orthodoxe
Lawra-Kloster in Swjatohirsk wurde bombardiert. Ist das nicht paradox?
In Charkiw wurde das Kunstmuseum von einer Rakete getroffen, zum Glück aber
nicht schwer beschädigt. Es war schon ironisch, als sein Direktor sagte:
„Wir sitzen hier unter russischen Raketen, um die russische Kultur zu
bewahren.“ Das Museum sammelt russisch-zaristische Kunst des 19.
Jahrhunderts.
Ironie ist wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, mit dieser kulturell
zerrissenen Position umzugehen, in die die Ukraine gezwungen wurde?
Zerrissen, ja und nein. Es gibt den Fall des Gregorius-Skoworoda-Museums.
Gregorius Skoworoda gehört zum Kanon der ukrainischen und russischen
Philosophie, als frühe Figur der Aufklärung. Putin bezog sich auch auf
Skoworoda in seinem Text „Über die historische Einheit von Russen und
Ukrainern“, mit dem er schon im März 2021 die volle Invasion ideologisch
ankündigte. Das Museum in der Region Charkiw wurde im Mai von russischen
Streitkräften zerstört, nicht aber die Statue von Skoworoda. Fotos von
ihrer Evakuierung verbreiteten sich rasch, sie kündeten von der Zerstörung,
aber auch der Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Kultur, davon, wie
bestimmte Objekte überleben können. Das schafft starke Bindungen.
Wie kann man nun gesellschaftlich mit Orten umgehen, die mit einer
russischen Vergangenheit verwoben sind, wie Odessa, das von Katharina der
Großen gegründet wurde?
Oder die Stadt Poltawa, berühmt für die Schlacht bei Poltawa und den bis
heute von Russland propagandistisch ausgenutzten Sieg Peters des Großen.
Jetzt wird versucht, alles zu dekonstruieren, was kulturell mit Russland in
Verbindung steht. Einige denken über die Musealisierung solcher Orte nach.
Andere schlagen vor, den öffentlichen Raum umzugestalten, Gedenktafeln
auszuwechseln, die Vermittlung zu ändern, um irgendwie die Komplexität der
Geschichte anzusprechen. Aber es gibt auch den Vandalismus lokaler
Aktivisten. Ich fürchte, je länger dieser Krieg andauert, desto schlichter
und monolithischer wird das ukrainische Verständnis von Kultur. Wir werden
also auch nationalistischer.
Ist es überhaupt möglich, während dieses Angriffskriegs eine kulturelle
Offenheit zu bewahren?
Die Ukraine will Teil der EU werden, und wir versuchen daher, Inklusion und
Vielfalt als wichtigste Werte zu sehen. Aber das ist sehr schwierig im
Krieg! Wir sollten auch unsere eigene Beteiligung am Aufbau des russischen
Imperiums anerkennen. Ukrainer machten im 18. und 19. Jahrhundert gute
Karrieren im Zarenreich, sie gehörten in einigen historischen Momenten
nicht zu den diskriminierten Völkern. Ich hoffe, dieser Krieg wird nicht
dazu führen, dass alles Russische verdammt wird. Wir müssen klar
unterscheiden zwischen der Vergangenheit, in der eine imperiale Ideologie
üblich war, und der genozidalen Ideologie des russischen Staats heute, die
archaisch ist und keinen Platz haben darf!
Man denkt jetzt an den Wiederaufbau, von Städten wie Charkiw etwa. Der
dortige Kulturpalast der Eisenbahnarbeiter vom russischen Architekten
Aleksandr Dmitriev wurde bombardiert. Kann dieses Gebäude, das historisch
mit dem sowjetischen Moskau in Verbindung steht, erhalten bleiben? Oder
wird über einen Abriss nachgedacht?
Für Charkiw hat man bereits vor dem 24. Februar 2022 mehrere Strategien
entwickelt, mit der Architekturgeschichte umzugehen. Einige wichtige
Bauten, vor allem jene aus dem 19. Jahrhundert, werden jetzt als Denkmäler
einer lokalen Kultur anerkannt. Und die modernistische Architektur, zu der
auch der Kulturpalast aus den 1930er Jahren gehört, wird vielmehr als
international, als Teil der Bauhaus-Bewegung, nicht mehr als sowjetisch
betrachtet. Es gibt keine Abrissgedanken.
Stattdessen muss also die Architekturgeschichte neu gedeutet werden. Wie
könnte man nun architektonisch mit dem gegenwärtigen Krieg umgehen?
In Charkiw wird über das Gebäude der Regionalverwaltung kontrovers
diskutiert. Im März ist es völlig ausgebrannt. Einige schlagen nun einen
ganz neuen Bau vor. Das ursprünglich konstruktivistische Gebäude wurde von
der Kommunistischen Partei in den 1920er Jahren errichtet und nach dem
Zweiten Weltkrieg im stalinistischen Zuckerbäckerstil wiederaufgebaut, es
trägt viele historische Schichten. Nun wird auch überlegt, die Version aus
Stalins Zeiten zu rekonstruieren, aber die Spuren der Raketeneinschläge
sichtbar zu lassen. Der britische Architekt Norman Foster, den Charkiws
Bürgermeister Igor Terechow übrigens sehr verehrt, macht jetzt den
Vorschlag, wie beim Berliner Reichstag die historische Fassade zu erhalten
und das Innere ganz neu zu bauen.
12 Oct 2022
## AUTOREN
Sophie Jung
## TAGS
Stadtgeschichte
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