# taz.de -- Charkiwer Schule für Fotografie: Ironische Prise, subtiler Trotz | |
> Experimentell ist die Fotografie der Charkiwer Schule, wie das | |
> Kunstmuseum Wolfsburg zeigt. Die Exponate wurden aus der Ukraine | |
> evakuiert. | |
Bild: Ausstellungsansicht „Ukrainian Dreamers“ mit u.a. der Serie „Sots A… | |
Zunächst stehen die betroffenen Menschen im Vordergrund, wenn ein Krieg | |
ausbricht. Das gilt jetzt, seit dem erschütternden 7. Oktober 2023, für den | |
Nahen Osten und seit fast 600 Tagen für die Ukraine. Aber auch Kulturgüter | |
sind im Krieg bedroht. Oft braucht es dann den Mut Einzelner, um etwa | |
Kunstwerke rechtzeitig außer Landes zu bringen. Und wenn diese an einem | |
fremden Ort nicht nur ein sicheres Depot finden, sondern auch öffentlich | |
gezeigt werden, kann sich für das neue Publikum ein unbekannter Schatz | |
öffnen. | |
Das passiert gerade, in der ersten institutionellen Ausstellung in | |
Deutschland mit Fotografie der Charkiwer Schule. Die Schau „Ukrainian | |
Dreamers“ im Kunstmuseum Wolfsburg ist der Auszug aus rund 5.000 | |
Fotografien und über 70.000 Negativen, die Sergiy Lebedynskyy wenige Wochen | |
nach Kriegsbeginn als Rückfracht in den Transportern humanitärer Hilfe aus | |
seiner Heimatstadt Charkiw nach Wolfsburg (und auch Österreich) brachte. | |
Der Ingenieur lebt und [1][arbeitet schon länger in der Autometropole]. Und | |
seit einigen Jahren setzt er sich für die Bewahrung dieses großen | |
fotografischen Erbes von Charkiw ein, das bis heute eine ästhetische Schule | |
begründet hat. | |
Wäre alles planmäßig verlaufen, so hätte in Charkiw 2022 das von | |
Lebedynskyy vorangetriebene Moksop – Museum of Kharkiv School of | |
Photography eröffnet. Es wäre das erste Museum für Fotografie in der | |
Ukraine gewesen. Nun sprang das Kunstmuseum Wolfsburg in die Bresche, holte | |
im letzten Herbst das gesamte Material aus Lebedynskyys [2][häuslichem | |
Zwischenlager in sein Depot] und ließ ihn auch diese tolle Ausstellung | |
kuratieren. | |
Die bietet einen Überblick über vier Generationen aus insgesamt gut 40 | |
Fotokünstler:innen, die ab den 1960er Jahren mit einfachen Mitteln und umso | |
mehr experimenteller Fantasie die strenge Kontrolle der sowjetischen | |
Kulturbehörden unterliefen. In zahlreichen, auch konkurrierenden Gruppen | |
formiert, wurden sie zu einem lokalen, sehr eigenständigen „Phänomen“, so | |
Sergiy Lebedynskyy. | |
## Verschiebung der Blickwinkel | |
In den 1990er Jahren prägte die Kunsthistorikerin Tetyana Pavlova die | |
Bezeichnung als Charkiwer Schule der Fotografie. Ihr Mann Evgeniy Pavlov, | |
ein Vertreter der Schule, arbeitet seit den 1980er Jahren noch mit | |
fotografischen Montagen. Jüngste Generationen wie der Zusammenschluss SOSka | |
beziehen seit 2005 Video und Performance mit ein. Sie sind dann das | |
dynamische Ausdrucksmittel einer ukrainischen Gesellschaft im Um- oder auch | |
Aufbruch. | |
Nicht das plakative Aufbegehren wählte die Charkiwer Schule zu ihrer | |
Methode, sondern die feine [3][Verschiebung der Blickwinkel], der Sujets | |
oder die Verfremdung fotografischer Techniken wie konventioneller Aufgaben. | |
Die Ergebnisse sind oft dunkel in der Stimmung und melancholisch im | |
Ausdruck. Technisch reichen sie von der handwerklichen Collage – einer | |
osteuropäischen Traditionslinie der surrealistischen Fotografie der 1930er | |
Jahre – über die bewusste Fehlbelichtung, Einsatz längst abgelaufenen, | |
analogen Materials aus Sowjetzeiten oder nachträgliche Kolorierung. | |
Die Aktfotografie war Tabu zu Sowjetzeiten und wurde als Pornografie | |
geahndet, die Charkiwer Schule für Fotografie inszenierte Nacktheit indes | |
gern. Auf den Aufnahmen in Roman Pyatkovkas Serie „Hexensabbat“ von 1988 | |
wollen die Ungekleideten mit ihren exzessiven Bewegungen dann förmlich aus | |
der Sowjetunion herausspringen. Und stets blitzt bei diesen Bildern eine | |
Prise Ironie durch, die wohl subtilste Waffe gegen jegliche Form | |
staatlicher Regulierung. | |
## Postsowjetische Agrarlandschaften | |
Oft begannen die Charkiwer Fotokünstler mit bezahlten Aufträgen. Sie | |
reproduzierten, retuschierten und kolorierten alte Fotografien gemäß | |
Kundenwunsch, um dann ganz eigene Bilder daraus zu entwickeln. Viktor und | |
Sergiy Kochetov etwa, Vater und Sohn, zogen Aufnahmen im ungeschönten | |
Schwarz-Weiß von trotlosen postsowjetischen Agrarlandschaften heran. Danach | |
griffen sie zum Farbpinsel, um nur die typischen Kopftücher der Bäuerinnen | |
in ein intensives Rot zu tauchen. | |
Meister dieser Bildfindung ist der mittlerweile 85-jährige Boris | |
Mikhailov. Er ist als einer der wenigen der Charkiwer Schule international | |
bekannt. 2015 erhielt er den Kaiserring Goslar. In Wolfsburg sind seine | |
„Sots Arts“ zu sehen, derart stark kolorierte Aufnahmen von offiziellen | |
Feiern aus den sowjetischen 1970ern etwa, dass sie ins Karikaturenhafte | |
kippen. Dazu gesellt sich eine Wandprojektion, die im Fortlauf zwei | |
Farbdias aus Mikhailovs Serie „Yesterday’s Sandwich“ übereinanderlagert … | |
eine Frau im sommerlichen Mini, eine andere mit dicker Salami in der Hand. | |
Sie sind der humorvolle, bildliche Kommentar zu einer widerständigen | |
Kulturtechnik, nämlich der, zwischen den Zeilen zu lesen. | |
14 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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