| # taz.de -- 100 Fotografie-Ausstellungen in Berlin: Fenster auf und Zunge raus | |
| > Der 10. Europäische Monat der Fotografie zeigt Fotokunst in 100 | |
| > Ausstellungen. Doch wie autonom ist die Fotografie heute? | |
| Bild: Zu sehen: Hashem Shakeri, „Porträt von Dorna und Sevda“ (2016); Pola… | |
| Der US-amerikanische Essayist Rob Horning schaute sich einmal private | |
| Polaroids aus den 1970er Jahren an, die er im Internet gefunden hatte. Es | |
| fühle sich an, schrieb er Anfang 2022 im Magazin Real Life zu den analogen | |
| Alltagsfotografien, als seien diese Bilder ein Fenster, das geschlossen | |
| ist. | |
| Hornings Metapher eines geschlossenen Fensters veranschaulicht, mit wie | |
| vielen offenen Fenstern wir es eigentlich heute zu tun haben in der | |
| Fotografie. Wenn die Porträtierten im Moment ihrer Ablichtung wissen, dass | |
| ihre Bilder Sekunden später in die Weite der sozialen Medien gesendet | |
| werden und sofort auf sie reagiert wird. [1][Die Proteste der Frauen im | |
| Iran] derzeit, die vielen Instagram-Bilder von ihnen, wie sie ohne Kopftuch | |
| durch Teheran laufen, sie äußern sich auch in einem gewissen | |
| Bildaktivismus. | |
| Und so steht man jetzt in der Berliner Galerie Anahita Contemporary seltsam | |
| zur Ruhe verdammt vor dem Fotoporträt zweier 12-Jähriger in der Provinz | |
| Teheran. Eine hat den Fuß in hohen Adidas-Sneakers auf einen Felsen | |
| gestützt, die andere trägt eine Jacke in Military-Optik. Der Blick beider | |
| ist straight, das Kopftuch geschickt nach hinten gelegt, es ist fast zu | |
| übersehen. Im Hintergrund die Wohntürme der Satellitenstadt Parand. Derart | |
| fotografierte Hashem Shakeri sie 2016. | |
| In Berlin beginnt jetzt der Europäische Monat der Fotografie (EMOP). Seit | |
| 20 Jahren besteht dieses Festival, nun eröffnet seine zehnte Ausgabe. 100 | |
| kleine und große Ausstellungen finden statt. Unübersichtlich, aber viele | |
| interessante Schauen sind dabei. Heinz Peter Knes’ seltsame Ablichtung | |
| eines jungen Rothaarigen, der mit erhobener, geöffneter Hand und | |
| herausgestreckter Zunge unberührt in die Kamera blickt, kündigt auf großen | |
| Plakaten in den Straßen das Festival an. | |
| ## Sonderbare Gesten im analogen Standardformat | |
| In seiner Hauptausstellung mit dem Titel „Touch“ hingegen taucht der Junge | |
| nur auf dem Foto im analogen Standardformat von wenigen Zentimetern auf. | |
| Man muss nach dem medialen Icon suchen, Hans Peter Knes hat es als Teil | |
| einer ganzen Materialsammlung an die Wand appliziert, für die er Menschen | |
| in Ausübung zärtlicher, manchmal sonderbarer Gesten ablichtete. In der | |
| Kreuzberger Galerie KM streckt einem dann aber derselbe Junge wieder von | |
| einem größeren Bildabzug die Zunge raus. | |
| Die Fotografie, sie soll während dieses Europäischen Monats das | |
| geschlossene Bild zeigen. Kein offenes Fenster, wie Rob Horning es sagen | |
| würde, sondern das Kunstwerk in der Ausstellung. Und so kriegt dieses | |
| Festival auch etwas irgendwie Zeitverschobenes. Allein wenn man Bilder aus | |
| dem Berlin vor der Wende sieht, die [2][Porträts von Ostberliner] Punks von | |
| Helga Paris oder [3][Ulrike Ottingers] Dokumentation des verrückt | |
| verrotteten Westberlins der 1970er. | |
| Trotzdem scheint in den Ausstellungen unterschwellig die Autonomie der | |
| heutigen Fotokunst hinterfragt. Pola Sieverding etwa zeigt in der Galerie | |
| Office Impart auf einem Pigmentdruck eine junge Frau bei Nacht im | |
| hochgeschlagenen Kapuzenpullover, ihr Gesicht hell erleuchtet vom | |
| Handybildschirm. Wird nicht in dem Moment dieser Fotografie eine andere vom | |
| Smartphone aus sozial verarbeitet? | |
| Özlem Altın entwickelt Collagen aus gefundenen Fotos, reproduziert sie auf | |
| großen Leinwänden und vermengt sie mit Ölfarbe zu einer Kunst zwischen | |
| Fotografie und Malerei von uneindeutiger Autorschaft. Die vielen Hände, die | |
| vergrößerten Augen erinnern an die [4][Dada-Künstlerin Hannah Höch], bei | |
| Altın aber sind es hybride Organismen, transhumane Körper. Ein Motiv, das | |
| vielfach auch in der digitalen Bildverarbeitung der sozialen Medien | |
| auftaucht. Vollkommen zu einem technoiden Ornament verzerrt sind die | |
| blassen Frauenkörper von Luka Keresmann von der Kunsthochschule Weißensee. | |
| Er generierte das verstörende Bild nur noch aus Deep Data. | |
| 4 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Autorinnen-ueber-Protest-in-Iran/!5910501 | |
| [2] /Fotografin-Ute-Mahler-ueber-Frauenbilder/!5837427 | |
| [3] /Ulrike-Ottinger-in-Paris/!5620892 | |
| [4] /Ausstellung-im-Berliner-Broehan-Museum/!5833773 | |
| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
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