Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Leandro Erlich-Ausstellung in Wolfsburg: Ansichten aus dem Inneren …
> Leandro Erlichs Kunst spricht jede:n an und bringt ihr Publikum lustvoll
> aus dem Gleichgewicht. Zu erleben ist das im Kunstmuseum Wolfsburg.
Bild: Weltraum-Spaziergang im Kunstmuseum: Erlich spielt mit der Faszination de…
Die neue Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg heißt „Schwerelos“: Abgehoben
ist sie aber keineswegs. Im Gegenteil, sie ähnelt gewissermaßen den
Familienstücken, die alljährlich zur Weihnachtszeit von deutschen Theatern
aufgelegt werden: Mit dieser ersten monografischen Ausstellung des
argentinischen Künstlers Leandro Erlich in Deutschland will man Jung und
Alt, die ganze Familie, über den Jahreswechsel ins Museum locken.
Dafür bedient sich das Haus spektakulärer Installationen, einer
bühnentauglichen Inszenierung sowie vieler eigens für Wolfsburg erstellter
Kunstobjekte: Es ist eine der wohl aufwändigsten Ausstellungseinrichtungen
in der [1][30-jährigen Geschichte dieses Museums.]
In der großen, komplett abgedunkelten Halle wird Technisches und Surreales
aufgefahren: Eine 13 Meter hohe Rakete scheint an der Empore angedockt zu
haben. Ein naturalistisch anmutender halber Mondkörper von etwa 20 Meter
Durchmesser ruht, dezent ausgeleuchtet, im Raum. Und ein kleines
klassizistisches Haus mit langen Wurzeln hängt unter der Decke. Diese ist
unterspannt mit einer fiktiven Landschaftsaufnahme, die wie ein
Satellitenbild wirkt.
Normalerweise schaut man ja nicht nach oben, Richtung Himmel, um solch
Anordnungen aus Straßen, Vegetationstexturen, Topografie und menschlichen
Ansiedlungen zu sehen: Im Flugzeug zum Beispiel blickt man nach unten auf
die Erde. Diese Irritation steigert noch die Begegnung mit dem Mond. Der
trägt auf seinem Scheitel eine kleine Plattform mit Treppe, die Spitze
lässt sich also erklimmen. Dazu muss man ins Innere des Mondes eintreten.
Dabei verliert man sich erst einmal unter einer Kuppel in einer
360-Grad-Rundumprojektion aus Sternenkonstellationen und Bildern nächtlich
hell erleuchteter Städte mitsamt ihren Straßennetzen. Die verspiegelte
Bodenfläche dieser Kuppel verunsichert das Gleichgewicht, sphärische Klänge
begleiten die Bildfolgen, für die sich Erlich unter anderem aus
Nasa-Archiven bedient hat.
Nach einigen Minuten geht der Mond auf. Er rast bedrohlich auf die
Betrachter:innen zu – und der Loop beginnt von vorne. Diese mehrfache
Umkehrung der Betrachtungsperspektive – befinde ich mich im Inneren des
Mondes? Schaue ich aus dem Weltall auf die Erde? – spielt an auf die
überwältigenden Erfahrungen, die in den 1960er-Jahren von Astronauten wie
William Bill Anders geschildert wurden.
An Heiligabend 1968 wurde er bei einer Mondumkreisung der aufgehenden Erde
gewahr. Sein ikonisches Foto „Earthrise“ prägte den empathischen Blick
einer ganzen Generation von Umweltschützer:innen auf die Schönheit des
„blauen Planeten“.
Die Reise zum Mond, der Aufbruch ins [2][Weltall] bietet Wissenschaft und
Kunst seit Jahrhunderten reichlich Material: seriöse Astronomie von Galileo
Galilei oder Johann Kepler über [3][Science-Fiction] in Literatur,
bildender Kunst und Film bis zu trashigem Kinderspielzeug. Erlich greift
diese Faszination auf und spinnt sie fort. So dürfen die Wolfsburger Rakete
jeweils bis zu drei Personen zugleich betreten. Eine Glasplatte bildet
ihren neuerlich das Körpergefühl herausfordernden Boden.
Wer hier eintritt, kann an einer unteren Sichtöffnung beobachtet werden:
Wenn die Raketen-Insassen sich auf den Glasboden legen und dort Bewegungen
vollführen, scheinen sie wahrhaftig in der Schwerlosigkeit zu schweben.
Über Spiegelungen können weitere Personen in anderen Teilen der Rakete
verfolgt werden: ein Kaleidoskop, das mit Sinnestäuschungen Realität und
Vorstellung durcheinanderwirbelt.
Das von der Decke hängende Haus mit seinem fliegenden Mobiliar wiederum
hatte Leandro Erlich 2015 zum 300-jährigen Stadtjubiläum Karlsruhes
geschaffen. Die ganze Stadt sei damals eine Baustelle gewesen, erzählt
Andreas Beitin, Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg und zu der Zeit am
Zentrum für Kunst und Medien tätig.
Direkt am Karlsruher Marktplatz hatte damals ein Baukran mit dem
entwurzelten Gebäude gestanden, das aus einer der nahegelegenen
Häuserreihen herausgerissen schien. Ohne diesen lokalen Bezug lässt es sich
nun als Chiffre für die weltweite Entwurzelung großer Teile der Menschheit
lesen.
Erlich gelingen mit seinen hyperrealen Skulpturen und Installationen
Publikumsrekorde: So wurden 2018 bei seiner Ausstellung im Tokioter Mori
Art Museum 610.000 Besucher:innen gezählt.
Seine technizistische Kunst passt perfekt zu Wolfsburg, aber sie ist mehr
als nur höherer, eskapistischer Unterhaltungsklamauk. In Buenos Aires 1973
geboren, in Uruguay lebend, studierter Philosoph, will Erlich durch seine
Wahrnehmungsirritationen einen anderen Blick auf die Welt, auch ein
Nachdenken über die [4][menschengemachte Umwelt und ihre Probleme]
provozieren. Vielleicht muss die Welt einmal auf dem Kopf stehen, müssen
sich Menschen ins Innere des Mondes begeben, um zu erkennen, was auf dem
Spiel steht.
9 Nov 2024
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!6013941&s=Andreas+Beitin&SuchRahmen=Print/
[2] /Galaktischer-Besucher/!6036568
[3] /Science-Fiction/!t5009521
[4] /Anthropozaen/!t5025120
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
Kunstmuseum Wolfsburg
Immersive Kunst
Kunst
zeitgenössische Kunst
Ausstellung
Kunstmuseum Wolfsburg
Künste
Charkiw
Kunstmuseum Wolfsburg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wolfsburg zeigt Gary Hill: Der Video-Sezierer
Gary Hill hat das Video radikal verändert, Gesprochenes zerlegt und Farben
manipuliert. Das Kunstmuseum Wolfsburg widmet ihm eine Retrospektive.
Malerei und Black History: Rebellisch leuchtende Wesen
Das Kunstmuseum Wolfsburg präsentiert die Künstlerin Firelei Báez.
Bildmächtig verbindet sie Mythen der Karibik mit Elementen des
Afrofuturismus.
Charkiwer Schule für Fotografie: Ironische Prise, subtiler Trotz
Experimentell ist die Fotografie der Charkiwer Schule, wie das Kunstmuseum
Wolfsburg zeigt. Die Exponate wurden aus der Ukraine evakuiert.
Kunstmuseum Wolfsburg: In der Relegation
Seit neun Monaten ist Andreas Beitin neuer Direktor des Kunstmuseums
Wolfsburg. Er kämpft gegen den Ansehensverlust seines Hauses.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.