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# taz.de -- Kunstmuseum Wolfsburg: In der Relegation
> Seit neun Monaten ist Andreas Beitin neuer Direktor des Kunstmuseums
> Wolfsburg. Er kämpft gegen den Ansehensverlust seines Hauses.
Bild: Blick in die Ausstellung „Ryoji Ikeda. Data-Verse“
Ein Kunstmuseum ist kein Fußballverein, klar. In Wolfsburg aber liegt ein
Vergleich nahe, denn beide – das Museum und der VfL – sind gut alimentierte
Kinder des ortsansässigen, weltgrößten Autobauers, des VW-Konzerns. Und von
beiden wird erwartet, dass sie ganz oben mitspielen. Im [1][Fußball] sieht
es durchwachsen aus. Nach der deutschen Meisterschaft 2009 dann 2017 die
Relegationsrunde mit geglücktem Klassenerhalt, derzeit kickt der Verein im
Mittelfeld der ersten Bundesliga.
Dem Kunstmuseum Wolfsburg, im Mai 1994 mit einer Festrede des französischen
Kulturpolitikers Jack Lang sowie einer großen Retrospektive von Fernand
Léger aus der Taufe gehoben, gelang unter seinem Gründungsdirektor, dem
Niederländer [2][Gijs van Tuyl], der souveräne Aufstieg in die Liga der
bedeutenden Häuser Deutschlands, vielleicht gar Mitteleuropas.
Eine rasante Frequenz thematisch bunter Ausstellungen, meist zu oder aus
den Ländern, in denen der VW-Konzern produzierte oder kräftig expandierte,
war das Markenzeichen dieser Jahre: Italiens postfaschistische Metamorphose
in Kunst, Film, Mode und Design, britische Kunst, brasilianische oder
chinesische Fotografie. Dazu Personalen von Doug Aitken bis Andy Warhol,
ein Mock-up von Zaha Hadid, eine ganz frühe Ausstellung der Fotografin Lee
Miller, aber auch Fragen zur „Bilderfindung Malerei“ im Zeitalter digitaler
Medien.
Und immer wieder Einblicke in die stetig wachsende Sammlung. Die
internationale Medienresonanz katapultierte das Haus in die Champions
League, ein Niveau, das auch unter dem zweiten Direktor, Markus Brüderlin,
und dem dritten, [3][Ralf Beil], gehalten wurde. Der tragische, frühe Tod
Brüderlins im März 2014 forderte das Haus erstmals in seinem
Krisenmanagement: sensibel kommuniziert, vorbildlich interimistisch
geleitet durch den damaligen Geschäftsführer.
## Lag es an Konzern und Kommune?
Ganz anders dann Mitte Dezember 2018, die „[4][zuerst vertragsgerechte
Kündigung] und schließlich einvernehmliche Auflösung des Vertrags“ von Ralf
Beil, so die offizielle Lesart aus Wolfsburg. In der Sachlage schwerlich
nachvollziehbar, klandestin vermittelt, blieben Fragen: Lag es an Beils
kuratorischer Systemkritik an Konzern und Kommune?
War es die für 2019 geplante, im Oktober 2018 mit einem mehrtägigen
Symposion angerissene Themenschau „Oil. Schönheit und Schrecken des
Erdölzeitalters“, just zu einem Zeitpunkt, als der VW-Abgasbetrug immer
neue Dimensionen annahm? Nur wenige Tage nach der Demission Beils grüßte
bereits sein zum 1. April 2019 bestellter Nachfolger von der Website des
Museums: Andreas Beitin, bis dato Leiter des Ludwig Forums in Aachen.
Nun ist Andreas Beitin seit neun Monaten im Amt – Zeit einmal, sein
Programm für das Kunstmuseum Wolfsburg zu inspizieren. Bei seiner
offiziellen Pressevorstellung im Februar 2019 berichtete er von 15
Projekten, die er im Rahmen seiner Bewerbung vorgeschlagen habe. Als erste
eigene Kuratierung hat er kürzlich die deutsche Premiere von zwei klang-
und bildgewaltigen „Daten-Symphonien“ des Japaners Ryoji Ikeda, data-verse
1 und 2, besorgt. Beitin und Ikeda kennen sich aus einer früheren
Wirkungsstätte Beitins, dem Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien ZKM.
Im Februar wird das Staatsorchester Braunschweig in der Installation
gastieren – womit schon Neuerungen im Wolfsburger Hause anklingen:
erweiterte Angebote, auch für Menschen, die nicht zum Stammpublikum eines
Kunstmuseums zählen. Eine „Jahreszeitung“ wird im Januar einen Überblick
geben: über Vorträge, Diskussionsveranstaltungen, verlängerte und
kostenfreie Eintrittszeiten.
## Monografische Würdigungen und politische Kunst
Zwei Programmlinien wolle er verfolgen, so Beitin kürzlich im Gespräch. Zum
einen monografische Würdigungen auch vergessener oder hierzulande
unbekannter Positionen, etwa der US-Amerikanerin Barbara Kasten ab März
2020. Die mittlerweile 83-Jährige aus Chicago gilt als „artist’s artist“,
setzt sich konzeptionell mit der Fotografie auseinander, dem Prozess der
Überführung einer dreidimensionalen Realität – so Objekten aus Plexiglas,
Maschendraht und Spiegelflächen – in die zweidimensionale Ebene.
Beitin sieht in ihr „eine Avantgarde-Position des Analogen“ in Zeiten
digitaler Manipulation von Bildern. Diese Kooperation mit der Sammlung
Goetz in München wird von einem zweiten Fotografen begleitet, Ulrich
Hensel. Der 73 Jahre alte Düsseldorfer finde in menschengemachten
Baustellen einen Vorwand, so Beitin weiter, um malerisch abstrahierend mit
der Fotografie zu arbeiten.
Eine zweite Programmlinie gilt der politischen Kunst. Hatte Beitin im
Februar davon gesprochen, das Haus „noch globaler“ und verstärkt mit
Künstlerinnen weiterentwickeln zu wollen, scheint er damit an die Beil’sche
Trias „globaler, weiblicher, politischer“ andocken zu wollen.
„Macht! Licht!“ wird ab Mai in der großen, verdunkelten Halle in sieben
thematischen Strängen, arrangiert in der Architektur eines Panoptikums, dem
perfekten Symbolbau moderner Überwachungsgesellschaften, Lichtkunstwerke
zeigen, denen im weiteren Sinn politische, soziale, ökologische,
ökonomische oder manipulierende Aussagen eigen sind. Die Künstlerliste
verzeichnet mit Alfredo Jaar, Jeppe Hein oder Tobias Rehberger alte
Bekannte des Braunschweiger Lichtparcours, ein zur Expo 2000 sorgfältig
konzipiertes, in Neuauflagen zum populären Event mutiertes Unterfangen.
Der fünfte Lichtparcours im Sommer ist dann nicht nur zeitliche Koinzidenz,
die Vernetzung in die Region ein weiteres Anliegen Beitins. Mit dem
Wolfsburger Kunstverein gab es bereits den Austausch beim partizipativen
Projekt „Konstruktionen des Ichs“; dem kleinen Braunschweiger Fotomuseum
oder dem Sprengel Museum in Hannover begegne er „ohne Dünkel“, so Beitin.
Er wisse natürlich die fantastische Position seines Hauses zu schätzen,
das, durch zwei Stiftungen grundfinanziert, ihn vom bürokratischen Aufwand
der Sicherstellung eines auskömmlichen Etats entbinde.
## Transdisziplinärer und transnationaler Beirat
Ende 2020 geht es, motivgeschichtlich breit gefächert, mit Werken von
Brueghel bis zur Gegenwartskunst „In aller Munde“ – ein
Ausstellungsprojekt, vor Zeiten angestoßen vom Kulturwissenschaftler
Hartmut Böhme, thematischer Influencer seit Brüderlins Tagen. „Rollenbruch.
Kunst und Feminismus“ steht für Ende 2021 auf dem Programm. Ein
transdisziplinärer und transnationaler wissenschaftlicher Beirat eruiert
dazu richtungsweisende Arbeiten feministisch orientierter Kunst. In
Forschung und auch Publikation will Beitin also Kontinuität.
Aber vorher, im Juni 2021, startet doch tatsächlich die Schau „Oil.
Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters“, erarbeitet mit Alexander
Klose und Benjamin Steininger, Berlin und Wien. Die beiden sind Initiatoren
des spekulativen Forschungsprojekts „Beauty of Oil“ zu Irrsinn und nahem
Ende einer „Petromoderne“. Diese müsse in ihren politischen, ökonomischen,
ästhetischen und philosophischen Dimensionen erst einmal verstanden werden,
um beendet werden zu können, so ihr Credo, 2018 vorgestellt in einem
„Großformat“ der Süddeutschen Zeitung.
Was macht Andreas Beitin also anders als sein direkter Vorgänger? Wo steht
das Haus heute? Beitin spielt nicht offensiv, seine Konzeptpapiere lesen
sich wohl austariert. Das Medienecho ist derzeit verhalten, „niemand ruft
an“, bemerkt auch Beitin das zurückgegangene Interesse am Hause, seiner
Direktion. Um letztmals den Vergleich mit dem Fußball zu bemühen: So fühlt
es sich wohl an, zur Bewährung auf einem Relegationsrang.
8 Jan 2020
## LINKS
[1] /Zukunftsforscher-ueber-Sport/!5648635
[2] /Ausstellung-Spuren-der-Moderne/!5045988
[3] /!223922/
[4] /Kulturpolitik-in-der-VW-Stadt-Wolfsburg/!5563141
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
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