| # taz.de -- Geschichte der documenta: Aus dem mythischen Dunkel | |
| > Eine Ausstellung in Kassel und ein Symposium in Berlin erforschen die | |
| > Geschichte der documenta. Einige Spuren führen in die NS-Vergangenheit. | |
| Bild: Szene der documenta 1955 mit Werken von Gerhard Marcks und Georg Meisterm… | |
| Ein nackter Jüngling aus Bronze steht auf einem weißen Sockel, die Hände | |
| flehend nach oben gerichtet. Neben der recht kleinen Statue hängt ein | |
| Ölbild in Blau-Gelb, ein Kraftfeld aus Dreiecken und Gittern. Wer dieser | |
| Tage die Neue Galerie in Kassel betritt, hat plötzlich das Gefühl, wie es | |
| damals tatsächlich ausgesehen haben könnte, 1955, auf der ersten documenta. | |
| [1][Gerhard Marcks’ Skulptur „Orion“] und Georg Meistermanns Gemälde | |
| „Gerüste“ sind vor dem transparenten Vorhang „göppinger plastic“ | |
| präsentiert. Damit ließ documenta-Gründer Arnold Bode damals die Wände | |
| verkleiden. Im Treppenaufgang passieren Besucher ein wandgroßes Foto der | |
| weißgetünchten Backsteinmauer in der Rotunde des ausgebombten | |
| Fridericianums. | |
| „about: documenta“: Mit seiner neuen Dauerausstellung will das Museum die | |
| Geschichte der Schau nachzeichnen, deren Name die Stadt Kassel stolz in | |
| ihrem Untertitel führt. 14 Räume stehen für 14 documenta-Ausstellungen – | |
| [2][von Arnold Bode bis Adam Szymczyk]. Sogar ruangrupa, das neue | |
| Kuratoren-Kollektiv der documenta 15 aus Indonesien, hat mit einem | |
| treudeutschen Wohnzimmer aus Plüschsofas einen Raum beigesteuert, der die | |
| Spekulationen befeuert, was wohl 2022 in Kassel zu sehen sein könnte. | |
| „Die Schau hat bisher alle Erwartungen übertroffen“, freut sich Martin | |
| Eberle, der neue Direktor der Museumslandschaft Hessen Kassel. | |
| Documenta-Forscher dürften vermutlich eher die Stirn runzeln. Und zwar | |
| nicht nur, weil die Kasseler Kuratoren das chaotische Experiment documenta | |
| in dem Parcours wie in einer Marketing-Broschüre aufblättern. Sondern auch | |
| weil die Forscher den documenta-Mythos längst skeptisch sehen, der in | |
| Kassel reinszeniert wird. | |
| Die Selbststilisierung der documenta zu einer „Gegenschau“ zur berüchtigten | |
| Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 und zu einer Ehrenrettung der Moderne | |
| hatte der Kunsthistoriker Walter Grasskamp schon Ende der 80er Jahre | |
| verworfen. Schließlich hätte die erste Schau den Juden Felix Nussbaum, den | |
| Kommunisten Otto Freundlich oder John Heartfield ausgespart. | |
| ## Anpassung der Kunstnarrative | |
| Ende Oktober erneuerten [3][Julia Friedrich, Leiterin der Grafischen | |
| Sammlung des Museums Ludwig in Köln], und der Cambridger Historiker | |
| Bernhard Fulda auf einer Konferenz des Deutschen Historischen Museums (DHM) | |
| in Berlin dieses Verdikt. Raphael Gross, dessen neuen Direktor, fasziniert | |
| die „Politische Geschichte der documenta“, so der Titel der Tagung, die im | |
| Oktober 2019 stattfand. In diesem Jahr will er im DHM eine Ausstellung dazu | |
| eröffnen. | |
| Ein Raunen war freilich durch den Lichthof des DHM gegangen, als Julia | |
| Friedrich mitteilte, dass Werner Haftmann, von 1955 bis 1964 künstlerischer | |
| Berater von documenta-Gründer Arnold Bode, von 1937 bis zum Kriegsende | |
| NSDAP-Mitglied gewesen sei. In dem guten Monat zwischen der Eröffnung der | |
| neuen Dauerausstellung in Kassel und der Konferenz in Berlin hätte sich das | |
| herumsprechen können. Einen Hinweis darauf sucht man in der Neuen Galerie | |
| aber vergebens. Stattdessen prangt an einer Wand Haftmanns Zitat „Die Kunst | |
| ist abstrakt geworden“ von 1959, dem Jahr der documenta 2. | |
| Vor dem Hintergrund der Berliner Konferenz liest sich das Mantra der | |
| Nachkriegsmoderne plötzlich schal. 1934 hatte Haftmann nämlich, so | |
| Friedrich und Fulda, den Expressionismus in einem Aufsatz in der | |
| NS-Kunstzeitung Kunst der Nation noch als Beispiel „deutscher Sendung“ | |
| schmackhaft machen wollen. Elf Jahre später präsentierte er ihn als | |
| Stammbaum der Moderne und sprach von „europäischer Verflechtung“. | |
| „Anpassung der Kunstnarrative“, nannte Fulda Haftmanns ideologische | |
| Nachkriegsklimmzüge. Eine documenta-Dämmerung sieht Harald Kimpel deswegen | |
| aber noch nicht heraufziehen. | |
| Der Kunstwissenschaftler, [4][viele Jahre Mitarbeiter des Kasseler | |
| documenta archivs,] gilt seit seinem Standardwerk „documenta. Mythos und | |
| Wirklichkeit“ als einer der besten Kenner der Geschichte der Schau. Auch in | |
| seinem 1997 publizierten Buch gibt es keinen Hinweis auf die | |
| NS-Mitgliedschaft Haftmanns. | |
| ## Kunst im Ost-West-Konflikt | |
| Kimpel ist kein documenta-Apologet. Er weiß, wie im Ost-West-Konflikt | |
| politisch instrumentalisiert wurde. Bei Haftmann zeigt er sich verhalten. | |
| Beim Gespräch im Café des Fridericianums gibt er allerdings zu, Bode und | |
| seinem Berater sei es mit ihren documenta-Ausstellungen auch um | |
| „Exkulpation und Selbstexkulpation“ gegangen. Die Kritik seiner Kollegen | |
| Friedrich und Fulda zu den Objekten seiner lebenslangen Recherche schreibt | |
| er dem Furor der Nachgeborenen zu, sieht sie aber als Fortschreibung seiner | |
| eigenen kritischen Position – jedoch: „Wo hätten die unbelasteten | |
| Ausstellungsmacher damals denn herkommen sollen?“, fragt er sarkastisch. | |
| Damit mag Kimpel recht haben. „Ich frage mich nur, warum nie früher jemand | |
| nach deren Biografien gefragt hat“, wundert sich die Kasseler | |
| Kunsthistorikerin Mirl Redmann. Für ihre Doktorarbeit über die | |
| „Internationalisierung der documenta“ hat sie unter den 51 an den ersten | |
| vier documenta-Ausstellungen beteiligten Machern neun ehemalige | |
| NSDAP-Mitglieder ausgemacht. | |
| Bei ihrer Recherche hat Redmann sich nicht nur auf documenta-Akten | |
| verlassen. Sondern ist im Berlin Document Center fündig geworden. Bei | |
| weiteren acht documenta-Mitarbeitern hält Redmann eine Neubewertung von | |
| deren Rolle für angebracht. | |
| Werner Haftmann, ein NSDAP-Mitglied. Eigentlich müssten da in der | |
| „documenta-Stadt“ alle Alarmglocken schrillen. Dort kommen die Erkenntnisse | |
| aber seltsam zeitverzögert an. Gibt es in Kassel Probleme mit der | |
| Aufarbeitung der Vergangenheit? | |
| Jörg Sperling sieht das nicht so. Der pensionierte Schuldirektor, seit 2018 | |
| Vorsitzender des documenta-Forums, verweist auf die vielen Gedenkorte in | |
| der SPD-Hochburg. „Ich freue mich auf ruangrupa“, sagt der kritische | |
| Politologe in seiner mit Kunst vollgehängten Wohnung. Er überlegt sich, | |
| Julia Friedrich zu einem Vortrag einzuladen. | |
| „Da können Sie sehen, wie wichtig die kunsthistorische Kernkompetenz in dem | |
| künftigen documenta-Institut ist“, entgegnet Birgit Jooss auf die Frage | |
| nach den Konsequenzen der jüngsten Forschungen. Seit 2016 ist die | |
| Kunsthistorikerin Leiterin des documenta archivs. Jooss hätte sich | |
| gewünscht, dass eine der vom Land eingerichteten documenta-Professuren mit | |
| einer Kunsthistorikerin besetzt worden wäre. Als „Kerndisziplin“ des neuen | |
| documenta-Instituts, das das Land am Kasseler Karlsplatz errichten will. | |
| Ausgeschrieben wurden jetzt aber drei Professuren für Architektur, Geistes- | |
| und Kulturwissenschaften. | |
| Die documenta-Professur, die es seit 2013 gibt, hält seit zwei Jahren die | |
| Philosophin Nora Sternfeld. Sie argumentiert dagegen. „Das neue Institut“, | |
| sagt die engagierte Kunstvermittlerin und Kuratorin nach einem | |
| anstrengenden Arbeitstag in der abendlichen Examens-Ausstellung der | |
| Kunsthochschule, „sollte von der Kunst her denken.“ Sie wünscht sich | |
| zusätzlich eine „Künstlerische Professur“. | |
| Das interne Tauziehen zwischen der Universität, der Kunsthochschule und der | |
| Politik um ein Prestigeobjekt, für das das Land Hessen immerhin 6 Millionen | |
| Euro springen lässt, ist die andere Seite der Zangenbewegung, der sich die | |
| documenta gegenübersieht. Mit mehr Geld und neuen Häusern wächst sich das | |
| früher überschaubare documenta-Büro in einer alten Schule hinter dem | |
| Fridericianum zu einer „hochtourig laufenden Kunstbürokratie“ (Kimpel) aus. | |
| An deren Spitze stehen neue Leute: Die neue documenta-„Generaldirektorin“ | |
| Sabine Schormann. In Kürze wird der Gründungsdirektor des | |
| documenta-Instituts berufen. Derweil schieben sich aus dem mythischen | |
| Dunkel der documenta unversehens ein paar alte Nazis ans Tageslicht. | |
| Die braunen Flecken auf der sonst blütenweißen Weste der documenta machen | |
| aus ihr nachträglich keine Nazi-Schau. Sie zu untersuchen sollte die | |
| documenta aber nicht dem Deutschen Historischen Museum überlassen. | |
| Vielleicht könnte sie, wie jüngst Kunstfreund Frank-Walter Steinmeier im | |
| Bundespräsidialamt, eine Historiker-Kommission einsetzen, um ihren | |
| NS-Kontinuitäten auf die Spur zu kommen. Für die Ergebnisse ließe sich in | |
| der Neuen Galerie womöglich noch ein Eckchen finden. | |
| 7 Jan 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Archiv-Suche/!625284&s=Katrin+Bettina+M%C3%BCller+Gerhard+Marcks&S… | |
| [2] /Documenta-14-in-Athen/!5396633 | |
| [3] https://www.museum-ludwig.de/ | |
| [4] https://www.documenta-archiv.de/de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
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