# taz.de -- Buch über Hitlers Krieg gegen die Kunst: Den Irrsinn mit Irrsinn e… | |
> Charlie English spannt in seinem Buch „Wahn und Wunder“ einen Bogen vom | |
> Euthanasieprogramm der Nazis zur „entarteten Kunst“ – und verhebt sich. | |
Bild: Hitler beim Besuch der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1935 in Dresden | |
Lässt sich von der Euthanasiepolitik der Nationalsozialisten eine | |
Verbindung herstellen zu deren irrigen Verständnis von einer „entarteten“ | |
Kunst? Charlie English, vormals Redakteur beim britischen Guardian, hat ein | |
Buch geschrieben, in dem er den 200.000-fachen Massenmord an Menschen mit | |
körperlichen und geistigen Behinderungen ab 1939 mit dem Kampf der Nazis | |
gegen die Moderne Kunst verknüpft. Im englischen Original ist der Band vor | |
zwei Jahren erschienen und erfuhr nicht zuletzt aufgrund seiner | |
vermeintlich originellen These einige Aufmerksamkeit. Der Aufbau Verlag | |
legte „Wahn und Wunder“ kürzlich in einer deutschen Übersetzung vor. | |
Ausgangspunkt von Englishs Überlegungen ist der Psychiater und | |
Kunsthistoriker Hans Prinzhorn, der nach dem Ersten Weltkrieg damit | |
begonnen hatte, Kunst von Psychiatriepatienten zu sammeln. 1922 | |
veröffentlichte er ein vielbeachtetes Buch mit dem Titel „Bildnerei der | |
Geisteskranken“, das rund 5.000 Werke von 450 Künstlerinnen und | |
Künstlern in stationärer Behandlung reproduzierte. | |
Prinzhorns Botschaft war einleuchtend: Kunst entzieht sich den | |
medizinischen Kategorien von krank oder gesund. Ohnehin hatten sich | |
zeitgenössische Künstler aufgrund der Erfahrungen des Krieges nach 1918 | |
eingehend mit dem Motiv der körperlichen und seelischen Versehrtheit | |
befasst. Prinzhorns Sammlung stieß daher insbesondere bei | |
Vertreter:innen des Expressionismus und Surrealismus auf Zuspruch. | |
Zugleich jedoch lieferte sie auch Anlass für Kritik. Nationalisten und | |
NS-Kulturpolitiker sahen in der Ähnlichkeit von „Irrenkunst“ mit den Werken | |
gefeierter Modernisten wie [1][Otto Dix] oder Max Beckmann die Bestätigung | |
der seit dem 19. Jahrhundert verbreiteten „Entartungstheorie“. Demnach habe | |
die Beimischung „minderwertiger Elemente“ den Wesenskern deutscher Kultur | |
zerstört. Der Zustand der Kunst illustriere symptomatisch die Situation des | |
Landes. Besserung sei nur zu erreichen, davon war man in rechten Kreisen | |
überzeugt, wenn es gelänge, die Kunst von ihren „volksfremden“ Elementen … | |
befreien. | |
## Zuvorderst Symbolpolitik | |
Die kulturpolitischen Frontstellungen der 1920er Jahre skizziert English | |
anschaulich, ebenso die bereits 1925 mit der Regierungsbeteiligung der | |
NSDAP in Thüringen beginnende Umsetzung des Programms zur Säuberung der | |
Kunstlandschaft. Nach der Verbannung der Modernisten aus den thüringischen | |
Landesmuseen erfolgte ab 1933 die Ausdehnung der Maßnahmen deutschlandweit. | |
Arbeiten von Prinzhorn-Künstlern wie Karl Genzel fanden sich 1937 in | |
[2][der NS-Propagandaausstellung „Entartete Kunst“] neben Skulpturen des | |
Bildhauers Eugen Hoffmann und Grafiken Oskar Kokoschkas, um den | |
vermeintlichen Irrsinn moderner Kunst zu „belegen“. | |
Die Zeitungen druckten die plakativen Gegenüberstellungen ab, zynisch mit | |
der Frage an ihre Leserschaft versehen, bei welchem Werk es sich wohl „um | |
die Dilettantenarbeit von Insassen eines Irrenhauses“ handle. Traurige | |
Ironie der Geschichte: Prinzhorn selbst bekannte sich 1933 zum | |
Nationalsozialismus, da dieser es vermöge, die Jugend zu begeistern. | |
So detailliert English die Maßnahmen der NS-Kunstpolitik beschreibt, so | |
sehr verhebt er sich mit dem Ansinnen, den Bogen zum Euthanasieprogramm der | |
Nazis zu spannen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass zahlreiche | |
Künstler der Sammlung Prinzhorn von den Nazis ermordet wurden. Doch mussten | |
sie eben gerade nicht sterben, weil sie den Nazis als künstlerisch | |
„entartete“ galten, sondern weil sie nicht deren wahnhaften Vorstellungen | |
„wertigen“ Lebens entsprachen. | |
Ein solches Schicksal drohte den in Deutschland verbliebenen oder später im | |
besetzten europäischen Ausland lebenden Vertretern Moderner Kunst | |
ausdrücklich nicht. Der Kampf der Nazis gegen die Künstler der Moderne war | |
zuvorderst Symbolpolitik zum Zweck der gesellschaftlichen Ideologisierung, | |
das [3][Euthanasieprogramm] zielte auf die physische Vernichtung der | |
Menschen. Theoretische Diffamierung eines künstlerischen Stils und | |
Massenmord sind aber zwei so grundsätzlich unterschiedliche Kategorien, | |
dass der Versuch der Verknüpfung ethisch auf die schiefe Bahn führt. | |
30 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Florian Keisinger | |
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