# taz.de -- Romane vom Niederländer J. J. Voskuil: Clash zwischen Neu und Alt | |
> Berühmt ist J. J. Voskuil für sein Mammutwerk „Das Büro“. Auf Deutsch | |
> erschien nun auch sein sehr lesenswerter Roman „Die Nachbarn“. | |
Bild: Der niederländische Schriftsteller J. J. Voskuil im Jahr 1999 | |
In den Niederlanden mit ihren 17 Millionen Einwohnern ist der 2008 | |
verstorbene Schriftsteller J. J. Voskuil eine literarische | |
Ausnahmeerscheinung. Sein siebenteiliger, rund 5.200 Buchseiten [1][starker | |
Roman „Das Büro“ über das Berufsleben seines Alter Ego] Maarten Koning am | |
Amsterdamer Institut für Volkskunde, an dem auch Voskuil drei Jahrzehnte | |
tätig war, erschien zwischen 1996 und 2000 und verkaufte sich über 500.000 | |
Mal. | |
Bei jeder Veröffentlichung eines weiteren Bandes standen die Menschen vor | |
den Buchhandlungen Schlange. Verfasst hat Voskuil das Mammutwerk nach | |
seiner Pensionierung 1987 in nur vier Jahren. Der schier unfassbare Erfolg | |
der Reihe liegt auch darin begründet, dass sie mehr ist als „nur“ ein Roman | |
über das Leben eines einzelnen Mannes, der sich tagein, tagaus mit den | |
zahllosen Ärgernissen und Sonderbarkeiten des Berufsalltags herumschlägt. | |
Sie ist zugleich auch eine feinsinnige literarische Chronik des kulturellen | |
und gesellschaftlichen Wandels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, | |
in den Niederlanden, aber auch darüber hinaus. | |
Der Berliner Verbrecher Verlag veröffentlichte die „Büro“-Serie von 2012 | |
bis 2017, übersetzt von Gerd Busse, dem es auch weiterhin gelingt, die | |
einzigartige Schlichtheit und Lakonie der Voskuil’schen Prosa für das | |
deutschsprachige Publikum zu bewahren. Voskuils Werk beschränkt sich nicht | |
auf „Das Büro“. | |
## Das Private im Mittelpunkt | |
Daneben hat er, ebenfalls im Ruhestand, vier weitere Romane geschrieben, | |
die allesamt im „Büro“-Kosmos angesiedelt sind, aber auch losgelöst davon | |
gelesen werden können. [2][2021 hat der Wagenbach Verlag mit „Die Mutter | |
von Nicolien“] den ersten dieser Satellitenromane veröffentlicht. Darin | |
geht es um die allmählich sich entwickelnde Demenzerkrankung von Maartens | |
Schwiegermutter. | |
Auch im soeben erschienenen Roman „Die Nachbarn“ steht das Private im | |
Mittelpunkt. Das Buch ist in den 80ern angesiedelt, große Teile spielen in | |
der Amsterdamer Wohnung der Konings. Die Geschichte setzt ein, als mit | |
Petrus und Peer ein homosexuelles Paar ins Haus einzieht. Während Nicolien | |
auf Anhieb angetan ist von den „richtig netten Jungs“, betrachtet Maarten | |
die „zwei etwas zu groß geratenen Wichtelmännchen“ mit Argwohn. | |
Dennoch entwickelt sich ein reger sozialer Austausch, der von gemeinsamen | |
Abendessen und Radtouren bis zu Besuchen im Urlaub reicht. Vor allem mit | |
Peer, rund 30 Jahre jünger als der bereits 67-jährige Petrus, verbindet | |
Nicolien alsbald eine Freundschaft, die sowohl Maarten als auch Petrus mit | |
scheuer Distanz verfolgen. So viel zwischenmenschliche Nähe ist den beiden | |
Eigenbrötlern suspekt; am Zeitungsstand und im Gemüseladen nickt man sich | |
allenfalls distanziert zu. | |
Findet Maarten die neuen Nachbarn anfänglich lediglich „nicht interessant“, | |
wächst seine Ablehnung mit der Zeit. Peer, ein von Sozialhilfe lebender | |
Künstler, der gerne Zäune und tote Tiere fotografiert und erotische | |
Männerbilder malt, hält er für einen „debilen Idioten“; Petrus attestiert | |
er Demenz und humorlose Überheblichkeit. | |
## Hochkochende Emotionen | |
Maartens Abneigung ist für Nicolien unfassbar und führt zu heftigen | |
Auseinandersetzungen. Während Nicolien Maarten Homophobie attestiert, die | |
er von seiner Mutter geerbt habe, dreht Maarten das Argument kurzerhand um. | |
Er beschuldigt Nicolien, Petrus und Peer nur deswegen zu mögen, weil sie | |
homosexuell seien – grundsätzlich rühre ihre demonstrative Sympathie für | |
Minderheiten daher, dass sie dadurch den Antisemitismus ihrer Mutter zu | |
kompensieren suche. | |
Kein Wunder, dass die Emotionen mehr als einmal im Romanverlauf hochkochen | |
und Nicolien sogar damit droht, Maarten vor die Türe zu setzen. Dabei | |
liegen beide mit ihrer Einschätzung jeweils nicht ganz falsch. Als Petrus | |
und Peer davon berichten, auf der Straße als „dreckige Schwuchteln“ | |
beschimpft worden zu sein, hält Maarten die Aufregung darüber für ein | |
„Sandkastendrama“. | |
Eine freizügige Demonstration von Homosexuellen im Rathaus in Groningen für | |
Gleichberechtigung, von der die Zeitung berichtet, empfindet er als | |
exhibitionistisch. Generell provoziert das „Schwadronieren über Menschen, | |
die diskriminiert werden“, seinen Widerspruch, da er dahinter vermutet, | |
dass sie „sich in den Vordergrund drängen“. Für Nicolien hingegen sind Pe… | |
und Petrus gesellschaftliche „Underdogs“, die es ihr Leben lang schwer | |
gehabt hätten. | |
Ihr behagt zudem die vermeintlich unkonventionelle Lebensweise der beiden. | |
Dass Petrus niemals zweiter Klasse reist, einen Rassehund dem Mischling aus | |
dem Tierheim vorzieht und den angebotenen Genever als Arbeitergetränk | |
zurückweist, irritiert sie zwar, vermag ihr positives Bild aber vorerst | |
nicht zu trüben. | |
## Wichtiger Baustein fürs literarische Gesamtkunstwerk | |
Ihre Wut richtet sich vielmehr gegen Maarten, unterstellt ihm, die | |
einstigen gemeinsamen linksliberalen Ideale verraten und sich satt und | |
bequem im bürgerlichen Leben eingerichtet zu haben – ein Vorwurf, den „Das | |
Büro“-Leser allzu gut kennen. | |
Das Auseinanderbrechen der Vierer-Freundschaft entwickelt sich schleichend. | |
Dazu trägt bei, dass Petrus den verdutzten Maarten bei einer Diskussion | |
über den Film „Shoah“ (Claude Lanzmann, 1985) pauschal als Antisemiten | |
brandmarkt; und Peer, dessen psychische Labilität immer offenkundiger wird, | |
ihn wegen eines Missverständnisses beschimpft. | |
Der eigentliche Schockmoment für Nicolien ist erreicht, als die beiden | |
Nachbarn die Katzen der Konings in deren Urlaub mutwillig verwahrlosen | |
lassen – obwohl sich Nicolien immer hingebungsvoll um deren | |
mosambikanischen Papagei gekümmert hat. Geht es gegen Tiere, hört sogar bei | |
Nicolien die Freundschaft auf. | |
Mit „Die Nachbarn“ wird das literarische Gesamtkunstwerk Voskuils um einen | |
wichtigen Baustein bereichert. Wie für alle seine Bücher gilt auch hier: | |
Was vordergründig lustig oder skurril wirkt, ist letztlich der fortdauernde | |
Konflikt zwischen neuen und alten Ideen, einer neuen und alten Generation. | |
Das Wechselspiel von statischen und dynamischen Gesellschaftselementen ist | |
ein Grundmotiv der Voskuil’schen Gedankenwelt. | |
Dazu gehört auch die Sprache seiner Protagonisten, die stets zeitgebunden | |
und dem Wandel unterworfen ist. Das Wagenbach-Lektorat hat das | |
glücklicherweise beibehalten. Nachträgliche Tilgungen solcher historischen | |
Begriffe wie „Schwuchtel“ wären sicher nicht in Voskuils Sinn gewesen. Im | |
sechsten „Büro-Band“ legt er Maarten anlässlich dessen Abschied in den | |
Ruhestand in den Mund: „Jede Generation legt den Fakten ihr eigenes | |
Geschichtsbild zugrunde, um daraus anschließend die Sicherheit zu schöpfen, | |
dass dieses richtig ist.“ | |
5 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Florian Keisinger | |
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