# taz.de -- Roman über Demenz: Die Gefühle, die bewahrt werden | |
> Seit seiner Reihe „Das Büro“ genießt J. J. Voskuil Kultstatus. Mit �… | |
> Mutter von Nicolien“ wurde nun sein Porträt einer Demenzkranken | |
> übersetzt. | |
Bild: Romane über Demenz bilden fast schon ein eigenes Genre | |
Der Niederländer J. J. Voskuil (1926–2008) schilderte in seinem | |
[1][siebenbändigen Hauptwerk „Das Büro“] den Alltag in einer | |
wohltemperierten Hölle: Sein Alter Ego Maarten Koning arbeitete viele Jahre | |
lang am Amsterdamer Institut für Volkskunde. Eine Chronik der laufenden | |
Ereignislosigkeit: Streit um den besten Bürostuhl; pedantische | |
Untersuchungen über historische Typen von Wichtelmännchen; Leidensberichte | |
eines hypochondrischen Kollegen usw. | |
Der Büromensch Maarten wusste, seine Arbeit war sinnlos, bestenfalls | |
unschädlich. Zu Hause wartete die treusorgende Frau Nicolien, chronisch | |
eifersüchtig auf seine Arbeit. Weitere Freuden des Lebens: Radtouren bei | |
feinem oder schwerem Regen, ein schöner Genever, Treffen mit Bekannten oder | |
mit der Schwiegermutter. | |
Voskuil sagte einmal, wenn man den Leser abschrecken kann, muss man es tun. | |
Aber seine mutigen Landsleute hatten einen Sinn für diese fein gearbeitete, | |
teils tragische, dann wieder würgend komische Literatur. Die Bücher hatten | |
Kultstatus. Soeben ist eine Art Spin-off zu diesem Großprojekt erschienen. | |
Es beschreibt Maartens Schwiegermutter in den Jahren bis 1985. Dabei liegt | |
der Schwerpunkt auf der Demenz, unter der sie im Alter leidet. | |
Die namenlose Schwiegermutter ist eine sympathische, humorvolle Frau, die | |
aus sogenannten „einfachen Verhältnissen“ kommt. Anfangs lacht sie darübe… | |
dass ein studierter Mann wie Maarten aus beruflichem Interesse wissen will, | |
welche Lieder und Verse sie aus ihrer Kindheit erinnert. Sie idealisiert | |
die früheren Zeiten nicht, warnt Maarten aber manchmal, er soll nicht so | |
viel spotten und zweifeln. Braucht man nicht Gewissheiten? | |
## Wachsende Verunsicherung | |
Ihre Demenz kündigt sich unauffällig an: Da wühlt sie dauernd in der | |
Handtasche, um eine Fahrkarte zu finden, die sie doch erst kaufen wird. Sie | |
verliert ihren Mantel, verwechselt Käse und Seife. Sie spricht zunehmend | |
vage, um ihre Erinnerungslücken nicht auffällig werden zu lassen; dadurch | |
fallen sie noch mehr auf. | |
Natürlich sorgen sich Nicolien und Maarten, aber alle drei verharmlosen | |
ihre Aussetzer, ihre wachsende Verunsicherung: Ist es nicht normal, dass | |
alte Leute jede Abweichung vom jahrzehntelang eingeübten Alltagstrott | |
verwirrend finden? Nach einer Augenoperation nimmt der geistige Verfall | |
rapide zu. Die Kategorien „Ort“ und „Zeit“ lösen sich auf: Die | |
Schwiegermutter verläuft sich in der Stadt und findet ihre Wohnung nicht | |
mehr. | |
Sie weiß ihr Alter nicht, auch nicht den Wochentag. Als Maarten einmal | |
erzählt, dass die Partei der Umweltfreunde das Autofahren in der Innenstadt | |
verbieten will, fragt sie erschrocken, ob die Juden von dort vertrieben | |
werden sollten. Trotz ständiger Hilfeleistung der Angehörigen und einer | |
Nachbarin muss sie schließlich in ein Heim eingewiesen werden, in dem sie | |
noch sieben Jahre lang lebt. | |
[2][Romane über Demenz] mit ihren Auswirkungen auf Betroffene und | |
Angehörige bilden mittlerweile schon fast ein eigenes Genre. Wenn es dabei | |
um die Eltern geht, um die ehemals übermächtigen Portalfiguren des eigenen | |
Lebens, dreht es sich zwar nur selten um eine „Abrechnung“ – und doch | |
führen die Autor/innen auch hier unvermeidlich die Regie. | |
## Vergänglichkeit der menschlichen Existenz | |
Sie entscheiden bei der Darstellung der Kranken, wo sie die Grenze zwischen | |
Einfühlung und Übergriffigkeit ziehen. Und es liegt an ihnen, ob ihr Text | |
konkret bleibt oder ob das Krankheitsbild zum Anlass wird, über die | |
Vergänglichkeit der menschlichen Existenz zu meditieren. | |
Voskuil, der sich auch in diesem Buch auf Tagebuchnotizen stützt, vermeidet | |
Abstraktionen, verzichtet auf Psychologisierung. Er konzentriert sich | |
nahezu behavioristisch auf das Sprechen und Verhalten der Figuren. Als die | |
Schwiegermutter ins Heim gebracht wird, sagt sie: „Tschüss, Häuschen.“ | |
Maarten und Nicolien fühlen sich als Verräter; sie sind hilflos, | |
angestrengt, irritiert, ratlos, traurig. Wenn ihnen der Kragen platzt und | |
sie an ihre Grenzen kommen, lässt Nicolien ihre berüchtigten Wutanfälle | |
hemmungslos an Maarten aus, und der verkriecht sich in sein Schneckenhaus. | |
Die einzelnen Szenen und Dialoge wirken gestochen scharf. Ein bescheidener, | |
überschaubarer Wortschatz, viele allgemeine Redewendungen und familiäre | |
Neckereien entwickeln durch ihre Wiederholungen eine auffällige Mechanik | |
und Monotonie. Reden, das ist einerseits ein Gerüst, an das die drei sich | |
klammern. Permanent versichern sie sich: „Was haben wir es doch wieder | |
gut.“ | |
Andererseits offenbart dies Reden den Verlust an Sinn und die wachsende | |
Leere unter den dreien, die sich doch herzlich zugetan sind. Voskuils | |
lakonische Schreibweise macht die bedrückende Atmosphäre physisch | |
vorstellbar: Das ohnehin zurückgenommene Sprechen verfärbt sich allmählich | |
und welkt. Es verliert an Leben oder weist kurz aufflackernd noch einmal | |
darauf hin, wie viel Gefühle eben doch darin bewahrt waren. | |
## Miniaturen einer schrumpfenden Welt | |
Bei der [3][„kleinen Welt“ von Demenzkranken] und ihren Angehörigen verhä… | |
es sich wie mit anderen kleinen Welten: Je genauer einer hinsieht, desto | |
mehr erweisen die sich als unüberschaubar, als in sich widersprüchlich. So | |
ist es bei Voskuil. Sein Buch ist traurig, ja. Aber es bleibt nicht bei | |
einem einzigen Gefühl. Diese Miniaturen einer schrumpfenden Welt und des | |
Verfalls jeder Gewissheit – überzeugend und achtsam von Gerd Busse | |
übersetzt – zeigen auch häufig komische Situationen, die den Gestalten | |
durchaus klar sind. | |
Ganz selten kommentiert Voskuil einmal: Da sitzen die drei im heimeigenen | |
Café und Maarten gibt der Schwiegermutter unterm Tisch einen kleinen | |
Fußstups. Sie droht seinem Schuh, den sie für einen Hund hält. „Daran | |
hatten sie alle drei einen unbändigen Spaß.“ Ist das sarkastisch, zynisch? | |
Oder findet hier ein nachvollziehbares, anrührendes Sekundenglück statt? | |
Solche Fragen weckt diese Prosa und gibt einem zu denken. | |
Voskuil insistiert auf der Oberfläche und doch wird sein Buch zwischen den | |
Zeilen zu einer Tiefenbohrung. Die Behauptung, man müsse den Leser | |
abschrecken, muss nicht als provokativ oder kokett verstanden werden. | |
Wahrscheinlich ist sie schlicht ein Hinweis auf Prioritäten: Voskuils | |
Interesse gilt vorrangig seinen Figuren. Weder breitet er Philosophien aus | |
noch versucht er, Leser abzuholen, zu verführen, mitzureißen. | |
Einmal sieht Maarten die verstörte Schwiegermutter auf der Straße, wie sie | |
Nicolien hinterhertrabt, „die linke Hand vorgestreckt an ihrem Arm, den | |
Rücken gekrümmt, den Kopf vorgestreckt, wie die Blinden auf dem Gemälde von | |
Breugel.“ | |
[4][Breugel malte] nicht in erster Linie zum Gefallen der Leute, er wollte | |
ihnen wohl auch kaum die religiöse Botschaft näherbringen, wonach die im | |
übertragenen Sinne „Blinden“ und ihr blinder Führer in die Grube stürzen | |
werden – er wollte die profane Krankheit so exakt wie möglich darstellen. | |
Voskuils Hauptfigur und ihre Angehörigen stolpern ihren erbärmlichen Weg | |
dahin. Die trostlos genaue und dabei für Zwischentöne so sensible | |
Schreibweise kommt einem nahe und macht den literarischen Wert des Buchs | |
aus. | |
28 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sabine Peters | |
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