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# taz.de -- Neuer Roman von Kazuo Ishiguro: Die gekaufte beste Freundin
> In „Klara und die Sonne“ zeigt Kazuo Ishiguro unsere
> Leistungsgesellschaft. Und zwar durch die Augen eines Roboters in
> Mädchengestalt.
Bild: So sieht künstliche Intelligenz in der Realität aus: „Kodomoroid“ b…
Es ist so leicht, hereinzufallen auf diese Prosa. Kazuo Ishiguro, der vor
vier Jahren für manche überraschend den [1][Nobelpreis für Literatur]
erhielt, beherrscht die Kunst des literarischen Understatements wie kein
zweiter. An der Oberfläche glatt, sanft, stets wohltemperiert scheinen
seine Sätze wie von selbst über das Papier zu gleiten. Absolut
unangestrengt gleiten Auge und Geist mit; Ishiguro garantiert easy reading
[2][auf hohem Niveau].
Aber diese leichte Zugänglichkeit ist in Wahrheit eine Art Verkleidung,
eine freundliche Ummantelung existenzieller Menschheitsfragen, die sich
durch Ishiguros Werke ziehen und in ewiger Unlösbarkeit seine Erzählungen
grundieren: Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Sind wir alle einzigartig?
Sind wir gleich viel wert? Und wie überwinden wir unsere Einsamkeit?
In dem neuesten Roman Ishiguros ist das Prinzip der leichtgängigen
narrativen Oberfläche sowohl auf die Spitze getrieben als auch gleichzeitig
verbildlicht: in der Ich-Erzählerin, die eine künstliche Intelligenz ist,
ein Roboter in Mädchengestalt. Klara, sagt die Managerin des Ladens, in dem
die Maschine zu Beginn noch zum Verkauf steht, sei etwas Besonderes, da sie
eine überdurchschnittliche Beobachtungs- und dadurch auch Empathiefähigkeit
besitze.
Klaras großes Interesse an den Menschen und deren Verhalten macht es auch
plausibel, dass sie zur Erzählerin wird. Ihre Art zu erzählen erinnert
dabei oft an das, was wir Menschen als „leichte Sprache“ bezeichnen. Ihre
Syntax ist stets korrekt, aber nicht sehr komplex, und ihr Wortschatz
scheint sich mit der Zeit vielleicht zu erweitern, arbeitet aber mit
zahlreichen Stereotypen.
Zudem ist Klara nur begrenzt in der Lage, Schlüsse aus erlebter sozialer
Interaktion zu ziehen. Ihre Wahrnehmungsgabe ermöglicht ihr meist, Menschen
richtig einzuschätzen und auf sie einzugehen. Die Fähigkeit, Überlegungen
über den gesellschaftlichen Kontext anzustellen, in dem diese Menschen
leben, fehlt dem freundlich zugewandten Roboter dagegen komplett.
Daher bleibt es den LeserInnen überlassen, mithilfe von Klaras naiven
Beobachtungen eigene Vermutungen über die Welt anzustellen, in der dieser
Roman spielt. Und ähnlich wie in Ishiguros früherem Roman „Alles, was wir
geben mussten“ ist es nicht gut möglich, die Handlung von „Klara und die
Sonne“ adäquat zusammenzufassen, ohne zu viel zu verraten; denn nach und
nach eigene Schlüsse aus dem Erzählten zu ziehen, ist wesentlicher
Bestandteil des Leseerlebnisses.
Gesellschaft fürs Kind
Das Kernsujet ließe sich in etwa so beschreiben: Roboter-Klara wird von der
Mutter der 14-jährigen Josie als Gefährtin für ihre Tochter gekauft. Die
beiden leben in einem abgelegenen Haus inmitten von Feldern. Josie ist
kränklich, bekommt zu Hause Privatunterricht über ihr „Rechteck“, wie Kla…
alle technischen Gadgets der Menschen nennt, und hat keine gleichaltrigen
Freunde außer Rick, der in dem einzigen Haus wohnt, das in der Nähe ist.
Bei einer Party, die Josie geben muss, wird deutlich, dass Rick ein
Außenseiter ist, weil irgendetwas an ihm anders ist als bei den anderen
Jugendlichen.
Bald geht es Josie immer schlechter, und Klara begreift, dass das Mädchen
vielleicht sterben muss – und dass die Mutter mit Klara einen besonderen
Plan verfolgt. Doch auch Klara hat einen Plan: Da sie selbst solarbetrieben
ist, hat sie die Auffassung gewonnen, dass die Sonne über eine magische
Kraft verfügt, die Klara „besondere Hilfe“ nennt und die Josie heilen
könnte. Aus allem, was sie über die Welt weiß, generiert Klara einen Plan,
wie sie die Sonne dazu bringen könnte, diese besondere Hilfe über dem
kranken Mädchen zu entfalten, und sucht sich Unterstützer unter den
Menschen.
Mit ihrem magischen Sonnenkult vollzieht Klara die Anfänge religiösen
Denkens nach, während die menschliche Gesellschaft, von der sie umgeben
ist, sich offenbar jeglichen Hang zum Metaphysischen abgewöhnt hat; es gibt
nur noch das Physische. Und das materielle Denken macht auch vor dem
Menschen selbst nicht halt. Ist nun die Maschine dabei, eine menschliche
Qualität zu entwickeln, die die Menschen leichtfertig aufgegeben haben?
Vielleicht. Dieser Roman gibt keine Antworten, er stellt nur Fragen.
Im Grunde ist „Klara und die Sonne“ eine Art Märchen – und das weniger in
der Hinsicht, dass die darin geschilderten Ereignisse niemals in realiter
möglich wären. Letztlich sind die technologischen Innovationen, die
Ishiguro hier andeutet, weit weniger utopisch als etwa die Vision vom
perfekten Maschinenmenschen in dem Roman „Maschinen wie ich“ seines
britischen Landsmanns Ian McEwan, der vor zwei Jahren erschien.
Doch während McEwan, ganz routinierter Unterhaltungsautor, das Thema
künstliche Intelligenz zur Basis einer satirischen Travestiegeschichte
macht, zeigt Ishiguro uns durch die alles registrierenden Augen der
Klara-Maschine, wo die Grenzen der menschlichen Wirkmacht liegen. Oder
liegen sollten. Die Botschaft findet mensch, wie bei jedem guten Märchen,
irgendwo hinter dem Text.
26 Mar 2021
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## AUTOREN
Katharina Granzin
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