Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neues Buch von Dietmar Dath: In Ecken und Winkel lugen
> Mathematik, Menschen und Maschinen: Ihr Verhältnis verhandelt Dietmar
> Dath in seinem Buch „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“. Aber nicht nur
> das.
Bild: Ist für den Leipziger Buchpreis 2022 nominiert: Autor Dietmar Dath
Es gibt einen schön versponnenen Seitenpfad in diesem Roman, da trifft der
Mathematiker Gerhard Gentzen auf [1][Lady Gaga]. Sie besuchen zusammen ein
Konzert, Gentzen nippt an einer Whisky-Cola, staunt über die langen Wimpern
der Pop-Diva, sie führen eine längliche Diskussion. „Ad absurdum“ [2][nen…
Autor Dietmar Dath] dieses Kapitel, und absurd ist es vielleicht, den
Logiker Gentzen, der von 1909 bis 1945 gelebt hat und Mitbegründer der
modernen mathematischen Beweistheorie war, mit Lady Gaga zusammenzubringen.
Absurd ist aber nicht der Versuch der beiden, einander zu verstehen:
Während er versucht zu definieren, was ein „Konzert“ ist, will sie wissen,
wie viele Primzahlen es gibt.
„Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ heißt Dietmar Daths neuestes Buch, la…
Eigenbezeichnung ein „Kalkülroman“. Die Gentzen-Gaga-Passage illustriert,
wie breit die Handlung thematisch und chronologisch gestreut ist. Sie
illustriert auch, dass es um die Faszination für Mathematik geht, darum zu
zeigen, wie sie die programmierte Welt der Gegenwart dominiert.
Als Leser:in findet man sich in einem Neben- und Durcheinander vieler
unterschiedlicher Zeit- und Handlungsebenen wieder. Die erzählte Zeit
reicht von 1728, als David Hume grundlegende Erkenntnisse für die
Aufklärung gewinnt, bis ins Jahr 2130, in dem posthumane Wesen und Apparate
über das Scheitern der Vernunft sprechen. Überwiegend ist das Geschehen
indes in der jüngeren Gegenwart angesiedelt, reale Personen – [3][Frank
Schirrmacher], Clemens J. Setz, Dietmar Dath, Jeff Bezos, um einige zu
nennen – tauchen genauso auf wie fiktive Charaktere.
Auch mit den Erzählperspektiven spielt der Autor – Dath erscheint mal in
der dritten Person, mal als Ich-Erzähler, der mit dem Autor des Buchs
wiederum viel gemein hat. Einige Kapitel spielen in der Redaktion der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dath, ehemals Spex-Chefredakteur und Autor
zahlreicher Science-Fiction- und Wissenschaftsromane, ist dort bis heute
Feuilletonredakteur, der 2014 verstorbene Frank Schirrmacher war einst sein
Chef. Das Buch liest sich auch wie eine – kritische – Würdigung
Schirrmachers.
Die Entstehung des Buchs schildert Dath dann wohl auch so, wie es wirklich
war: Von der Geschichte Gentzens erfährt er auf einer Karlsruher Tagung zur
Arbeit des Mathematikers Kurt Gödel im Jahr 2002. Die von Gentzen
erarbeitete Beweistheorie weist voraus auf das maschinengestützte Beweisen
des Computerzeitalters.
## Ein naiver NS-Mitläufer
In politischer Hinsicht war der Mathematiker ein naiver NS-Mitläufer, er
arrangierte sich mit den Nazis, trat sogar auf Anraten in die SA ein, wohl
vor allem, um ungestört weiterarbeiten zu können. Schließlich wurde er nach
der Befreiung Prags, wo er zuletzt arbeitete, inhaftiert und starb dort im
August 1945 an Unterernährung im Gefängnis.
Doch ist dieses Buch eben kein historischer Roman geworden, der Erzähler
sagt auch, über Gentzen sei „gar kein Erzähltext möglich“. Eher ist ein
montageartiger Gegenwartsroman entstanden, Dath streift viele politische
Diskurse: Corona, Flucht, Wohnungsbaupolitik, Rassismustheorie, die Krisen
des Liberalismus, der Vernunft, vor allem aber die Krise des Digitalen.
[4][Die Digitalisierung, so der Befund, ist in ein finsteres
monopolkapitalistisches Zeitalter] gemündet, und dort, wo eine digitale
Ethik sein sollte, befindet sich eine Leerstelle. Gleich zu Beginn des
Buchs fragt sich der Erzähler ob des Potenzials der Algorithmen: „Sind es
die richtigen Programme? Sind ihre von Menschen entwickelten
Zweckbestimmungen korrekt? Ist das, was sie tun sollen, das Gute? Man
kann’s nur hoffen.“
## Alles auf Twitter klingt nach Twitter
Die Frage, ob die Maschinen „das gut tun, was sie tun sollen“, sei viel
leichter zu klären als die Frage, „ob das, was sie tun sollen, gut ist“.
Genauso stellt sich die Frage, ob der Mensch die Programme macht oder ob
die Programme mehr und mehr den Menschen machen. Der Erzähler hat da schon
zu Beginn so eine Ahnung: „Alle auf Twitter sind originell bis zum
Umkippen, aber jede und jeder dort klingen mehr nach Twitter als nach
irgendeinem Subjekt.“
Daneben werden seitenweise marxistische und linke Diskurse referiert und
reflektiert, meines Erachtens sind die politischen Debatten der Figuren die
am wenigsten überzeugenden Passagen. Das aber eher als Randnotiz. Dieses
bereits im Herbst 2021 erschienene Buch ist ein Kuriosum („kurios“ in all
seinen Bedeutungen), das in sehr viele verschieden Ecken und Winkel der
Geschichte und Gegenwart lugt. Es ist erfreulich, dass es nun noch für den
Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde – wer weiß, vielleicht macht
ja tatsächlich am Ende dieser Außenseiter das Rennen.
16 Mar 2022
## LINKS
[1] /Modekrimi-House-of-Gucci-im-Kino/!5815901
[2] /250-Jubilaeum-des-Philosophen-Hegel/!5697517
[3] /Nachruf-auf-Frank-Schirrmacher/!5040099
[4] /Marxismus-und-Digitalisierung/!5463825
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Rezension
Literatur
Roman
Wissenschaft
Mathematik
Wissenschaft
Schauspiel
Literatur
Roman
Dietmar Dath
## ARTIKEL ZUM THEMA
Suche nach Primzahlen: Die Nächste, bitte!
Primzahlen sind sind essenziell für die Zahlentheorie und sind nützlich zur
Verschlüsselung. Nun wurde eine neue größte Primzahl gefunden.
Clemens J. Setz am Schauspiel Stuttgart: Und der Bildschirm währet ewig
Regisseur Nick Hartnagel wirft in Stuttgart mit einem Drama von Clemens J.
Setz Fragen zu Abschied, Trauer und vor allem zur Medienethik auf.
Oswald Wiener ist gestorben: Das Glück mit Maschinen
Bevor Oswald Wiener mit Ehrungen überhäuft wurde, galt er als Provokateur.
Nun ist der Avantgardist im Alter von 86 Jahren gestorben.
Neuer Roman von Kazuo Ishiguro: Die gekaufte beste Freundin
In „Klara und die Sonne“ zeigt Kazuo Ishiguro unsere Leistungsgesellschaft.
Und zwar durch die Augen eines Roboters in Mädchengestalt.
Neuer Roman von Dietmar Dath: Gott und das Wetter
Fantasy gehört dazu: „Leider bin ich tot“, der jüngste Roman von Dietmar
Dath, sucht eine offene Form für Fragen des Religiösen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.