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# taz.de -- Oswald Wiener ist gestorben: Das Glück mit Maschinen
> Bevor Oswald Wiener mit Ehrungen überhäuft wurde, galt er als
> Provokateur. Nun ist der Avantgardist im Alter von 86 Jahren gestorben.
Bild: Glücksanzug und Gotteslästerung: Oswald Wiener (1935-2021)
Von der „Uniferkelei“ zum österreichischen Staatspreis. Die wechselvolle
Karriere des Multitalents Oswald Wiener lässt sich schwer in Schubladen
unterbringen. Mit 18 Jahren stieß er als Jazztrompeter zu einem heterogenen
Freundeskreis von Literaten, die später als Wiener Gruppe bekannt wurde und
sich aus der bleiernen Schwere des künstlerischen Nachkriegsklimas in
Österreich zu befreien versuchte.
Der Mundartpoet H.C. Artmann war dabei, der Experimentaldichter Gerhard
Rühm, Konrad Bayer und Friedrich Achleitner. Man veranstaltete öffentliche
Lesungen, Happenings und literarische Cabarets. Den Experimenten mit
Sprachmusik und visueller Musik begegneten Gesellschaft und Medien
großteils mit Unverständnis und Ablehnung. Immer wieder wurde die Polizei
gerufen.
Was Wiener damals unter dem Einfluss von Dadaismus und Surrealismus
gedichtet hat, ist nicht erhalten. Er vernichtete sein literarisches Oeuvre
1959, als sich die Gruppe auflöste. Wohin es ihn zog, wusste Wiener damals
wohl selbst nicht. Auf der Uni Wien belegte er Afrikanische Sprachen, Jura,
Mathematik und Musikwissenschaften. Den Lebensunterhalt verdiente er als
Computerexperte bei Olivetti.
Schon damals beschäftigten ihn künstliche Intelligenz, Maschinen und
Mathematik als Grundlagenwissenschaft, die auch in seinem 1969
veröffentlichten Roman – in konsequenter Kleinschreibung – „die
verbesserung von mitteleuropa, roman“ eine Rolle spielten. Heimito von
Doderer und Karl Kraus dekonstruierend entwarf er darin das Konzept einer
Maschine – „Glücksanzug“ genannt -, die die Kontrolle über Geist und K�…
eines Menschen erlangt. Für die FAZ in einer späteren Rezension „eines der
beunruhigendsten Dokumente der deutschen Sprache überhaupt“.
## Skandal mit Ansage
Als das Buch bei Rowohlt erschien, lebte Wiener bereits in Berlin, wohin er
vor der österreichischen Justiz geflohen war. Als einem der Teilnehmer an
der legendären Aktion „Kunst und Revolution“ im Hörsaal 1 der Uni Wien,
besser bekannt als „Uniferkelei“, drohten ihm sechs Monate Haft wegen
Gotteslästerung.
Gemeinsam mit Günther Brus, [1][Otto Mühl,] Peter Weibel und anderen
Aktionskünstlern skandalisierten die Provokateure die neben 300
Studierenden anwesenden Boulevard-Reporter. Unter Absingen der Bundeshymne
wurde da auf offener Bühne masturbiert, der nackte Körper mit eigener
Scheiße beschmiert und die Flagge beschmutzt. Wiener selbst spielte dabei
nur eine Nebenrolle: er schrieb Formeln an die Tafel.
Oswald Wiener wurde in Berlin zum Magneten des kulturellen Nachtlebens. Die
Stadt verdankt ihm unter anderem die [2][Künstlerkneipen Matala, Exil und
Axbax]. Die Unrast trieb ihn aber bald nach Alaska und in den Norden von
Kanada, wo er mit seiner Frau Ingrid mehrere Jahre verbrachte und sich
sogar einbürgern ließ.
## Schicksal verkannter Genies
Nach seiner Rückkehr nach Europa studierte er zunächst Informatik in
Berlin. In Österreich erwartete ihn das Schicksal des lange verkannten
Genies. Er wurde mit Ehrungen überhäuft: 1989 bekam er den Großen
Österreichischen Staatspreis für Literatur, 1992 den Grillparzerpreis, die
Uni Klagenfurt verlieh ihm 1995 einen Ehrendoktortitel.
Aus seiner ersten Ehe mit der bildenden Künstlerin Lore Heuermann stammen
drei Kinder, das bekannteste nennt sich Sarah Wiener und hat sich als
Szenewirtin und Fernsehköchin einen Namen gemacht. Oswald Wiener starb am
Donnerstag in Wien an den Folgen einer Lungenentzündung.
19 Nov 2021
## LINKS
[1] /Aufwachsen-auf-Otto-Muehls-Friedrichshof/!5056541
[2] /Der-Zeichner-und-Wirt-Michel-Wuerthle/!5531933
## AUTOREN
Ralf Leonhard
## TAGS
Wien
Berlin
Literatur
Avantgarde
Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
Rezension
Iggy Iop
Martin Kippenberger
Kino
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