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# taz.de -- Clemens J. Setz am Schauspiel Stuttgart: Und der Bildschirm währet…
> Regisseur Nick Hartnagel wirft in Stuttgart mit einem Drama von Clemens
> J. Setz Fragen zu Abschied, Trauer und vor allem zur Medienethik auf.
Bild: Was ist Bildschirm, was ist Bühne, was ist echt in Nick Hartnagels Insze…
Er ist tot, unweigerlich und unwiederbringlich. Für seine Mutter lebt der
bei einem Autounfall verunglückte David trotzdem weiter. Als Tablet mit
Kamera auf einem Rollstuhl. Widerstand gegen diese Praxis des artifiziellen
Weiterlebens kommt indessen von allen Seiten: Die Schule weigert sich,
‚ihn‘ noch am Unterricht teilnehmen zu lassen. Ein Youtuber überschüttet
die Mutter und den Vater mit Hass. Und auch die allgemeine
Berichterstattung ebbt nicht ab. Während die Nerven bald schon aller blank
liegen, gewinnt in Clemens J. Setz’ neuem Stück „Der Triumph der Waldrebe
in Europa“ lediglich eine: die allpräsente Kamera.
Ihr gewährt Nick Hartnagel in seiner fulminanten Inszenierung am Schauspiel
Stuttgart breiten Raum. Überall nimmt sie das Geschehen auf und projiziert
es teilweise mehrfach in Großaufnahme für das Publikum. Allerdings nicht
auf klassische Leinwände, sondern auf Holzflächen, die wiederum den oberen
Teil des Hauses des Ehepaars abdecken. Darunter schauen wir auf weiße
Vorhänge, das eigentliche Spielfeld der DarstellerInnen. Bereits bei diesen
durchsichtigen Stoffen wird deutlich, dass es hierbei um die
Veranschaulichung des erschreckenden Innenlebens der
[1][Transparenzgesellschaft à la Byung-Chul Han] geht. Alles ist
transparent, alles wird einem pornoiden Blick ausgeliefert: die Trauer, die
bizarre Beschäftigung mit dem maschinellen Gravitationszentrum David,
dessen vermeintlicher Wille übrigens von der Mutter über einen Laptop
gesteuert wird.
Doch damit nicht genug der philosophischen Einflüsse auf das komplexe Werk.
Auch wenn der Büchnerpreisträger und der Regisseur nicht explizit bestimmte
Theorien benennen, bilden diese doch den Hintergrund des Arrangements. Wenn
etwa in einem der Songs, stark vorgebracht von einem Sänger am Keyboard,
der Satz fällt: „Wir leben in einer Zeit der Zeichen, die der Endzeit
gleicht“, fühlt man sich unmittelbar erinnert an die Vorstellung [2][Jean
Baudrillards]. Dem Poststrukturalisten zufolge würde die Welt durch ihre
eigene Simulation ersetzt. Realität entspricht dann wie für die Eltern in
ihrem künstlichen Paradies ausschließlich einer Illusion.
## Religiöse Glorifizierung der neuen Netzwerke
Noch bestechender mutet aber die „Mediologie“ des Werkes an. Damit hatte
die Philosophin Sibylle Krämer einst die Verbindung aus Medium und
Theologie zum Ausdruck gebracht. Längst ziehen wir einen Großteil unseres
Wissens aus den (er-)leuchtenden Bildschirmen, die alles Göttliche ersetzt
zu haben scheinen. Hartnagel setzt diese religiöse Glorifizierung der neuen
Netzwerke in gleich mehreren Elementen um. Mal vernehmen wir kurz eine
Orgelsequenz, mal stimmen die Schauspieler in einen sakralen Chorgesang
ein. Neben einer Beichtszene, in der der Vater kniend vor dem künstlichen
David um Vergebung für ein verlegtes Kabel bittet, tut das Bühnenbild sein
Übriges. Denn das Gebäude der Familie Herzer basiert nicht zufällig auf dem
Grundriss eines Kruzifix.
Dass deren Glaube an die Technik keine Erlösung bietet, muss vor allem
Renate (Therese Dörr) schmerzlich erfahren. Erst als ihr Gatte Konrad
(Gábor Biedermann) einen fingierten Brief von David übergibt, der sie
zwingt, sich in die Sicht ihres Sohnes hineinzuversetzen und ihr Ankämpfen
gegen die Wirklichkeit zu vergessen, entsteht so etwas wie Heilung. Die
Apparatur hatte das Paar zunehmend voneinander entfremdet. Am Ende besinnen
sich beide hingegen auf das, was tatsächlich auf Wahrheit gründet und sie
innigst verbindet, nämlich die gemeinsame Erinnerung an ihren Sohn.
## Von der Technik als Gift und Hoffnungsanker
Vielleicht knüpfen sich an diesen Moment die wichtigsten Fragen dieser
vielschichtigen Aufführung: Wie gehen wir in einer digitalen Gesellschaft,
die jedes Phänomen ins Bild setzen muss, mit dem Tod um? Können wir dessen
Finsternis noch ertragen? Wie kann nach dem Sterben das Recht verteidigt
werden, im ewigen Netzarchiv unsichtbar sein zu dürfen? Sieht nicht dann
gerade der Grundsatz der Menschenwürde vor, dass niemand mehr über das
eigene Bild verfügen darf?
[3][Setz] und Hartnagel diskutieren diese drängenden Anliegen im Rahmen
einer sehr anschaulichen, fein strukturierten Geschichte. Die Inszenierung
gelingt vollends, weil sie dabei weder vor skurriler Situationskomik noch
vor melancholischen Stimmungen zurückschreckt. Erst in dieser Kombination
vermittelt sich die Ambivalenz der Gemengelange: von der Technik als
Hoffnungsanker (für Renate) wie auch als Gift für die Realität. Für die
Figuren mag diese emotionale Odyssee erschöpfend sein, für das Publikum
trifft das Gegenteil zu: Die intensive Inszenierung wirkt packend bis zur
letzten Minute.
17 Oct 2022
## LINKS
[1] /Byung-Chul-Hans-neues-Werk/!5373896
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[3] /Neues-Buch-von-Clemens-J-Setz/!5722065
## AUTOREN
Björn Hayer
## TAGS
Schauspiel
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Rezension
Medienethik
Literatur
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Politisches Theater
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