| # taz.de -- Künstliche Intelligenz und Ethik: Stimmen aus dem Jenseits | |
| > Mit künstlicher Intelligenz klonen Filmstudios Stimmen verstorbener | |
| > Menschen. Das wirft dringende ethische und gesellschaftspolitische Fragen | |
| > auf. | |
| Bild: Der Film „Roadrunner“ lässt den Koch Anthony Bourdain Sätze spreche… | |
| Der Koch und Autor Anthony Bourdain war eine Berühmtheit. Er reiste um die | |
| Welt, um dem Fernsehpublikum die exotischsten Küchen vorzustellen. In der | |
| Sendung „Parts Unknown“ auf CNN probierte er bei einer Familie im | |
| Gazastreifen maqluba, ein traditionell palästinensisches Gericht, | |
| interviewte einen Oppositionspolitiker in Kambodscha und aß mit Barack | |
| Obama in einer Garküche in Hanoi. Bourdain war kein Starkoch à la Jamie | |
| Oliver, sondern ein Reiseschriftsteller in bester amerikanischer Tradition, | |
| der die Welt kulinarisch erschloss und die große Politik mit der | |
| Leichtigkeit eines asiatischen Reisgerichts erklärte. Im Jahr 2018 beging | |
| Bourdain in einem Hotelzimmer in Frankreich Suizid. | |
| Der Dokumentarfilm „Roadrunner“, der im vergangenen Jahr in die | |
| amerikanischen Kinos kam, ist eine Hommage an sein Lebenswerk. An einer | |
| Stelle des Films sagt Bourdain: „Du bist erfolgreich. Ich bin erfolgreich. | |
| Und ich frage mich: Bist du glücklich?“ Wer das Timbre von Bourdains | |
| Raucherstimme im Ohr hat, glaubt tatsächlich den Reisereporter zu hören. | |
| Doch der Koch hat diese Sätze nie gesagt. Artikuliert wurden sie von einer | |
| künstlichen Intelligenz. Die Software, die mit Stimmmaterial des | |
| Verstorbenen trainiert wurde, hat die Sätze aus einer Mail vertont, die | |
| Bourdain vor seinem Tod an einen Freund geschickt hat. Dem Publikum wäre | |
| dies vermutlich nicht aufgefallen, hätte Regisseur Morgan Neville nicht in | |
| der Öffentlichkeit verraten, dass eine KI-Software Bourdains Stimme | |
| synthetisiert hat. | |
| In den Filmstudios produzieren sie nicht mehr nur Spezialeffekte, sondern | |
| auch Stimmklone. So wurde für [1][die Serie „The Mandalorian“ von Disney+] | |
| die Stimme des jungen Mark Hamill synthetisiert. Das Einzige, was man dafür | |
| brauchte, war eine KI und Archivmaterial des ersten „Star Wars“-Films | |
| „Krieg der Sterne“ aus dem Jahr 1977, wo Hamill den Piloten Luke Skywalker | |
| spielt. Das Prinzip: Eine Software zerlegt die Tonspur in einzelne Laute | |
| und setzt die Audioschnipsel per Sprachsynthese zu neuen Wörtern zusammen. | |
| Mit solchen Effekten kann man Menschen wie Sprechpuppen agieren lassen. | |
| Aussehen, Alter, Stimme – das lässt sich am Computer alles modulieren. | |
| Digitalstudios haben sogar schon verstorbene Künstler wie Tupac oder Amy | |
| Winehouse als Hologramm reanimiert und auf Events auftreten lassen. | |
| Etwas gruselig ist es schon, wenn da plötzlich ein Toter auf der Bühne | |
| steht oder Worte verliest, die die Person zu Lebzeiten nie gesagt hat. Die | |
| Frage ist: Wer spricht da eigentlich? Der Computer? Ein Mischwesen? Ein | |
| Verstorbener aus dem Off? Die künstliche Reproduktion des menschlichen | |
| Stimmorgans wirft eine Reihe ethischer Fragen auf: Darf man posthum | |
| Schriftstücke mit der Stimme des Verstorbenen vertonen? Braucht es dafür | |
| eine Einwilligung zu Lebzeiten? Sind Stimmen von Schauspielern in Filmen | |
| Gemeingut? Wie weit darf die Publikumstäuschung gehen? | |
| ## Zufällig den eigenen Stimmklon entdeckt | |
| In den USA gab es nach dem Kinostart von „Roadrunner“ eine erregte | |
| Diskussion über Bourdains Stimmklon. [2][Einige Kommentatoren] hoben auf | |
| das Erfordernis der Zustimmung ab, weil das ein rechtliches Mittel sei, | |
| über sich selbst zu bestimmen – auch über den Tod hinaus. | |
| Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. So erfuhr die | |
| Synchronsprecherin Susan Bennett per Zufall, [3][dass sie die amerikanische | |
| Stimme von Apples Sprachassistentin Siri ist] – die Frau hatte im Jahr 2005 | |
| Texte für eine Firma eingesprochen, deren Rechtsnachfolgerin | |
| Spracherkennung an Apple lizenzierte. Auf rechtliche Schritte verzichtete | |
| Bennett. | |
| Die israelische Radiomoderatorin Galit Gura-Eini, die hebräische Stimme des | |
| Navigationsdiensts Waze, [4][klagte indes gegen Apple], weil sie ohne ihr | |
| Einverständnis zur Stimme von Siri wurde. Der Schauspieler Robin Williams, | |
| der unter anderem als Sprecher von Dschinni in „Aladdin“ bekannt wurde und | |
| 2014 Suizid beging, sorgte schon zu Lebzeiten vor: In [5][seinem Vertrag | |
| mit Disney] legte er fest, dass die Filmstudios seine Stimme nicht zu | |
| Werbezwecken nutzen dürfen. | |
| Ob Bourdain eine ähnliche Vereinbarung getroffen oder etwas in seinem | |
| Nachlass geregelt hat, ist nicht bekannt. Filmemacher Neville behauptet, er | |
| habe das Einverständnis von dessen Witwe eingeholt. Menschen, die Bourdain | |
| gut kannten, sagen aber, dass er es niemals gewollt hätte, seine Stimme | |
| einem Computer zu leihen. Der Koch sprach immer von „Authentizität“. Aber | |
| was will das schon heißen in einer Zeit, in der man künstliches Fleisch | |
| isst und virtuelle Influencer likt? Wo KI-Systeme wie Rembrandt malen und | |
| wie Beethoven komponieren? Was ist noch echt, was Fake? | |
| ## In der Hyperrealität | |
| „Wir haben die reale Welt abgeschafft“, unkte der französische Philosoph | |
| Jean Baudrillard in seinem Werk die „Intelligenz des Bösen“. In der | |
| Hyperrealität ist das Original von der Kopie nicht mehr unterscheidbar. Es | |
| geht hier aber nicht nur um Erkenntnistheorie, sondern auch um ganz | |
| grundsätzliche Fragen der digitalen Identität und Transzendenz. Wo zieht | |
| man die Grenze zwischen Leben und Tod? Müssen für digitale Klontechniken | |
| nicht dieselben Regeln gelten wie für die Reproduktionsmedizin? Sollten | |
| biometrische und genetische Daten, die immer mehr Fleisch an das Skelett | |
| des digitalen Zwillings bringen, nach dem Tod automatisch gelöscht werden? | |
| Müssen Daten nicht auch mal ruhen? | |
| Wohin die digitale Reproduktionstechnik führen kann, zeigt ein Beispiel aus | |
| den USA. [6][2020 haben MIT-Forscher ein Fake-Video produziert], in dem der | |
| ehemalige US-Präsident Richard Nixon in einer [7][Rede an die Nation] mit | |
| gedämpfter Stimme die auf dem Mond zurückgelassenen Raumfahrer Neil | |
| Armstrong und Edwin Aldrin als „tapfere Männer“ betrauert. Die Rede („In | |
| Event of Moon Disaster“) wurde nie gehalten, sondern nur für den Fall | |
| geschrieben, dass die Apollo-11-Mission scheitert. | |
| Da die Mondlandung und anschließende Rückkehr der Astronauten gelangen, | |
| schlummerte das Redemanuskript jahrelang im Archiv des Weißen Hauses. Im | |
| Rahmen eines Multimediaprojekts wurde das Manuskript mit einem Stimmklon | |
| vertont und als Tonspur über das digital rekonstruierte Bildmaterial | |
| gelegt. Wären die Lippenbewegungen nicht so pixelig, könnte man das Video | |
| für eine historische Quelle halten. | |
| Schon seit einigen Jahren [8][geistern sogenannte Deep Fakes durchs Netz], | |
| manipulierte Videos, in denen Gesichter von Prominenten in Pornos montiert | |
| oder Lippenbewegungen von Politikern imitiert werden. Die Software ist zum | |
| Teil frei im Internet erhältlich. Zwar stiftet die Technik auch Nutzen. So | |
| konnte der US-Schauspieler Val Kilmer, der nach einer Rachenkrebserkrankung | |
| seine Stimme verlor, seine Sprachfähigkeit durch einen digitalen Stimmklon | |
| wiederherstellen. Dennoch: Das Manipulationspotenzial ist gewaltig. | |
| ## Haltung des Technikglaubens | |
| Filmemacher Neville ficht das nicht an. [9][Er sagt: „Wir können ein | |
| Dokumentations-Ethik-Panel später noch machen.“] Das ist ja so eine | |
| typische Haltung des Technikglaubens: Wir machen erst mal, über Ethik | |
| können wir dann immer noch reden! Dass ein verantwortungsvoller Umgang mit | |
| Technik umgekehrt funktioniert, wollen die Sozialingenieure nicht | |
| wahrhaben. In ihrem mechanistischen Weltbild ist der Mensch ein digitales | |
| Ersatzteillager, dessen Teile man immer wieder neu zusammensetzt. | |
| Doch das Individuum ist mehr als die Summe seiner Daten. Die Stimme ist ein | |
| einzigartiges Identitätsmerkmal, sie gehört zu einem wie die Augen oder | |
| Papillarleisten. Die Freiheit zu entscheiden, wann man etwas sagt und wann | |
| nicht, unterscheidet den Menschen von einem Sprachautomaten, der auf | |
| Knopfdruck losplappert. Doch irgendwie scheint es in unserer | |
| speicherwütigen und [10][authentizitätsversessenen Gesellschaft] ein | |
| Bedürfnis zu geben, die verpasste Vergangenheit in der Gegenwart | |
| abzuspielen. | |
| In Südkorea hat eine Frau den Geburtstag ihrer verstorbenen Tochter | |
| gefeiert, die in der [11][virtuellen Realität] als Avatar wiederbelebt | |
| wurde. Es sind rührende Szenen, wie die Mutter mit einem Datenhandschuh | |
| über das virtuelle Gesicht ihrer Tochter streichelt, als hätte der Tod sie | |
| nie zertrennt. Auf der anderen Seite ist es unheimlich, wie die Technik das | |
| Leben transzendiert und eine neue verkörperte Wirklichkeit schafft. | |
| Die Frage ist: Wollen wir das? Wollen wir eine Gesellschaft, in der man | |
| Tote wie animierte GIFs herunterlädt? Solange es keine Regulierung gibt, | |
| werden die Stimmen aus dem Jenseits nicht verstummen. | |
| 17 Feb 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zuhause-mit-dem-Star-Wars-Franchise/!5683599 | |
| [2] https://www.newyorker.com/culture/annals-of-gastronomy/the-ethics-of-a-deep… | |
| [3] https://edition.cnn.com/2013/10/04/tech/mobile/bennett-siri-iphone-voice/in… | |
| [4] https://www.maclife.de/news/siri-verklagt-apple-hebraeische-stimme-nicht-ei… | |
| [5] https://www.theguardian.com/film/2015/mar/31/robin-williams-restricted-use-… | |
| [6] https://www.scientificamerican.com/article/a-nixon-deepfake-a-moon-disaster… | |
| [7] https://www.youtube.com/watch?v=2rkQn-43ixs | |
| [8] /Zauber-und-Gefahr-von-Deepfakes/!5600572 | |
| [9] https://www.newyorker.com/culture/annals-of-gastronomy/the-haunting-afterli… | |
| [10] /Eistees-der-Deutschrapper/!5796084 | |
| [11] https://www.reuters.com/article/us-southkorea-virtualreality-reunion-idUSK… | |
| ## AUTOREN | |
| Adrian Lobe | |
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