| # taz.de -- Was heute politisch ist: Überall und nirgendwo | |
| > Konsum und Lebensmittel werden zunehmend ideologisiert. Das ist Ausdruck | |
| > einer Hyperpolitik: Alles ist politisch, aber immer weniger politikfähig. | |
| Bild: German Currywurst | |
| Vor ein paar Wochen erklärte die französische Präsidentschaftskandidatin | |
| der konservativen Républicains, Valérie Pécresse, Französischsein bedeute, | |
| „einen Weihnachtsbaum zu haben, Gänsestopfleber zu essen, die Miss France | |
| zu wählen und die Tour de France“ zu schauen. | |
| Schon seit [1][einiger Zeit streitet Frankreich darüber], ob foie gras | |
| (Gänsestopfleber) ein Kulturgut oder schlicht Tierquälerei ist. Bei der | |
| Mästung wird den Tieren über mehrere Tage hinweg ein 50 Zentimeter langes | |
| Metallrohr in den Hals gerammt, über das Maisbrei in den Magen gepumpt | |
| wird. Die Produktion von Gänsestopfleber ist in der EU verboten. Frankreich | |
| umgeht das Verbot, indem es Gänsestopfleber zum Kulturgut erklärt hat. | |
| Einige grün regierte Rathäuser in Lyon, Straßburg und Grenoble haben die | |
| Delikatesse aus tierethischen Gründen bei offiziellen Abendessen von der | |
| Karte genommen, so wie der Weihnachtsbaum aus den säkularen Amtsstuben | |
| verbannt wurde. | |
| Die Franzosen haben in ihrem revolutionären Furor schon einige heilige Kühe | |
| geschlachtet, Europa aber schon immer [2][als À-la-carte-Menü verstanden]. | |
| Insofern lässt sich die Sache mit der Gänseleber als Versuch deuten, die | |
| nationale Identität zu stärken. Doch es ist erstaunlich, dass Pécresse | |
| keine Persönlichkeiten oder Werke, sondern Konsumgüter und Events in ihrer | |
| Aufzählung nannte – und Dinge politisch auflädt, die eigentlich in der | |
| privaten Sphäre liegen. | |
| Gelungene Integration bemisst sich demnach nicht nach Sprache oder | |
| Literatur, sondern nach Essverhalten und Dekoration. Franzose ist, wer | |
| Gänseleber isst. Auch hierzulande ist die Kulinarik Gegenstand | |
| identitätspolitischer Debatten. Der bayerische Ministerpräsident und | |
| CSU-Chef Markus Söder, der qua Amt auch die „Leberkäsetage“ vertreten mus… | |
| mokierte sich über Tofu-Wurst und Veggie-Burger, die „sinn- und | |
| geschmacklos“ seien. | |
| ## Ideologisierung der Verbraucherpolitik | |
| Unionfraktionschef Ralph Brinkhaus erhob die „Nackensteak-Esser“ zum | |
| „Rückgrat unserer Gesellschaft“. Und der neue grüne | |
| Verbraucherschutzminister Cem Özdemir wetterte kürzlich: „Ein gutes Motoröl | |
| ist uns wichtiger als ein gutes Salatöl.“ | |
| Die Ideologisierung der Verbraucherpolitik gibt es schon eine Weile, das | |
| zeigt die unsägliche Diskussion um den Veggie-Day, mit dem die | |
| Fleischesser-Fraktion die Grünen als Verbotspartei denunzieren wollte. Doch | |
| die – auf den zweiten Blick erstaunlich piefige – Diskussion um Salatöl und | |
| Gänseleber, die man eher in bunten Blättern und beim Kaffeekränzchen | |
| verorten würde, ist das Symptom einer zunehmenden Moralisierung und | |
| Politisierung von Lebensweisen. Was man auf dem Teller hat, ist politisch. | |
| Der Philosoph und Historiker Anton Jäger hat [3][kürzlich in einem Essay] | |
| für das britische Magazin Tribute ein Revival des Politischen | |
| diagnostiziert. Die Postpolitik der 90er und 00er Jahre, in der Politik als | |
| Naturgewalt oder „alternativlos“ dargestellt wurde, werde durch eine | |
| „Hyperpolitik“ abgelöst. Fußball, Netflix-Serien, Social-Media-Profile – | |
| heute sei alles politisch. Vielen der politischen Rechten komme die | |
| Gesellschaft so vor, als sei sie von „einer permanenten Dreyfus-Affäre | |
| vereinnahmt, die Familienabendessen, Drinks unter Freunden oder | |
| Business-Mittagessen spaltet“, so Jäger. | |
| Nun kann man es zunächst als demokratischen Gewinn verbuchen, wenn Politik | |
| nicht mehr in Hinterzimmern, sondern im öffentlichen Raum verhandelt wird. | |
| Das war ja die Forderung der Frauenbewegung, die mit dem Schlachtruf | |
| [4][„Das Private ist politisch“] in den 60ern die scheinbar unverrückbaren | |
| bürgerlichen Institutionen wie Ehe und Familie aus den Schlafzimmern der | |
| Republik in die politische Arena zerren wollte. Doch der politische | |
| Konflikt, so Jäger, finde in der „Abwesenheit von Politik“ statt: „Frage… | |
| was Menschen besitzen und kontrollieren, werden zunehmend durch Fragen | |
| ersetzt, wer oder was Menschen sind.“ | |
| ## In Kategorien einsortiert | |
| Man besitzt keinen Porsche, sondern ist Porsche-Fahrer. Und als solcher | |
| wird man – wie als Raucher oder Fleischesser – in Kategorien einsortiert. | |
| Doch ob man SUV- oder Radfahrer ist, ist ja nicht nur eine Lifestyle-Frage, | |
| sondern auch eine Verteilungs- und mithin politische Frage: Wir atmen alle | |
| dieselbe Luft und teilen uns Straßen. Und da ist es schon von politischer | |
| Bedeutung, wie ein öffentliches Gut genutzt wird. Indem nun aber | |
| Verteilungsfragen zu Glaubensfragen überhöht werden, werden sie dem | |
| politischen Diskurs entzogen und der Privatheit überantwortet. Man ist | |
| Fleischesser, so wie man Bayern-Fan oder Katholik ist. Amen. | |
| Der Befund lässt sich auch auf die Impfdebatte übertragen. War der Pieks in | |
| den Oberarm früher Privatsache, ist er heute ein Politikum. Doch der Streit | |
| um Impfstoffe, Schulschließungen, Lockdowns etc. spielt sich ja allein | |
| nicht auf einer politischen Ebene ab – was implizierte, dass man den | |
| anderen mit Argumenten überzeugen könnte –, sondern auf einer | |
| erkenntnistheoretischen. Die einen halten das Virus für einen Fake, die | |
| anderen für eine reale Gefahr. Fakten werden nicht als gegeben anerkannt, | |
| sondern politisiert. Man müsste daher die Frage stellen, wie Politik unter | |
| postfaktischen Voraussetzungen funktionieren kann – und ob der politische | |
| Prozess mit der Entpolitisierung von Fakten beginnen müsste. | |
| Nur: Wo fängt das Politische an, wo hört es auf? Ist der Rückzug ins | |
| Private vielleicht auch ein Fluchtreflex auf die Politisierung der Dinge, | |
| eine tiefe Sehnsucht nach dem Unpolitischen? Wer bestimmt eigentlich, was | |
| politisch ist und was nicht? | |
| Wenn die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx argumentiert, Essen sei „nicht nur | |
| Privatsache“, weil Ernährung externe Effekte wie soziale, ökologische und | |
| Krankheitskosten erzeuge, dann empfinden das viele als übergriffig, weil | |
| sie das Gefühl haben, der Staat sitze mit am Esstisch. Daher führen | |
| Konservative wie Valérie Pécresse und Ralph Brinkhaus ideologische | |
| Rückzugsgefechte und erklären den Teller zur letzten Bastion des | |
| Bürgerlichen. | |
| ## Private Dinge ins globale Dorf hineinposaunen | |
| Im antiken Griechenland waren die staatliche und häusliche Sphäre strikt | |
| getrennt. Was im Haushalt (oikos ) geschah, war Sache des Hausherrn. Doch | |
| in Zeiten des Internets, wo man privateste Dinge ins globale Dorf | |
| hineinposaunt, ist diese Trennung obsolet. Das Foto des Veggie-Burgers, das | |
| man auf Instagram teilt, ist auch ein politisches Statement: Seht her, ich | |
| verbrauche weniger Wasser und CO2! | |
| Doch die Geländegewinne, die Hyperpolitik auf dem Feld der privaten | |
| Lebensführung erzielt, können nur um den Preis politischer Brachen | |
| erfolgen. Die Nackensteak-Esser, Impfverweigerer und SUV-Fahrer räumen das | |
| politische Feld, weil sie schon die Sozialität ihres Handelns negieren. | |
| Zurück in ihren ideologischen Trutzburgen, werden sie weiter in ihrem | |
| selbstreferenziellen Lagerdenken bestätigt. | |
| Die Folge dieser Totalisierung des Politischen ist also auch eine | |
| Entpolitisierung von Prozessen, weil sich immer mehr Menschen vom | |
| politischen System abwenden und ihren Körper immer vehementer gegen den | |
| politischen Körper (staatliche Organe wie Regierung und Parlament) in | |
| Stellung bringen. | |
| Nach dem Motto: Was ich mir an Proteinen (Fleisch, Impfstoffe) zuführe, ist | |
| meine Sache! Die Fragmentierung der Öffentlichkeit führt dazu, dass in sehr | |
| vielen Echokammern der Anspruch des Allgemeinverbindlichen erhoben wird, | |
| dieser aber nicht eingelöst werden kann, weil die Spielregeln nicht | |
| akzeptiert werden. | |
| ## Dilemma postmoderner Demokratie | |
| Das ist ein Dilemma postmoderner Demokratien: Es ist zwar alles politisch, | |
| aber nicht alles politikfähig. Die EU kann Glühbirnen und Plastiktüten | |
| verbieten, aber – aus gutem Grund – keinen Speiseplan diktieren. Die großen | |
| Fragen unserer Zeit wie der Klimawandel oder die Pandemie werden nicht in | |
| Parlamenten, sondern im Privaten entschieden. | |
| Der individuelle Konsum – oder in der Diktion des | |
| Bundesverfassungsgerichts: „Freiheitsgebrauch“ – von heute bestimmt | |
| darüber, was wir morgen auf dem Teller haben werden. Doch gerade weil das | |
| keine privaten, sondern politische Fragen sind, müssen sie im öffentlichen | |
| Raum verhandelt werden. | |
| Wenn alle mit am Tisch sitzen, hat auch niemand das Gefühl, dass ihm etwas | |
| vom Teller genommen wird. | |
| 21 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Praesidentschaftswahl-in-Frankreich/!5824980 | |
| [2] /Ausstellung-ueber-Genuss-in-Paris/!5822101 | |
| [3] https://tribunemag.co.uk/2022/01/from-post-politics-to-hyper-politics | |
| [4] /Kommentar-Politik-und-Individuum/!5559346 | |
| ## AUTOREN | |
| Adrian Lobe | |
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