| # taz.de -- Holocaust-Vergleiche: Schwarze Milch der Frühe | |
| > Angesichts des Massakers der Hamas in Israel vergleichen auch | |
| > nichtjüdische Deutsche die Ereignisse mit dem Holocaust. Warum das keine | |
| > gute Idee ist. | |
| Bild: Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau | |
| Wir leben in einer Zeit, die nach langen Jahren der Entpolitisierung und | |
| der Aushöhlung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen wie | |
| Gewerkschaften, Kirchen oder auch Vereinen abrupt in eine Phase der | |
| extremen politischen Agitation übergegangen ist. Der belgische Historiker | |
| Anton Jäger nennt das in einem gerade bei Suhrkamp erschienenen Buch | |
| „Hyperpolitik“. | |
| Heute, wo alle im 20. Jahrhundert so prägenden grand narratives | |
| weggebrochen sind, bleibt in unserem politischen Imaginarium nicht mehr | |
| viel, wonach die meisten Menschen greifen können, um die Welt um sich herum | |
| in Worte zu fassen. Das „Dritte Reich“ und der Holocaust sind fast der | |
| einzige Referenzpunkt, der noch bleibt. In deutschen Schulen und Zeitungen, | |
| in Hollywoodfilmen und Computerspielen, in Reden von so unterschiedlichen | |
| Politikern wie Frank-Walter Steinmeier und Wladimir Putin wird der | |
| Holocaust als der schlimmstmögliche Zivilisationsbruch, werden die ihn | |
| ausführenden Nazis als das ultimativ Böse beschworen. | |
| Die deutsche Wachsamkeit gegenüber Gewalt und Anfeindung gegen Juden ergibt | |
| sich zwangsweise daraus, dass Deutschland den Holocaust verbrochen hat. Wir | |
| hatten in den letzten Jahren zu Recht viele Diskussionen über die | |
| Unzulässigkeit von Vergleichen oder Relativierungen des Holocaust, über die | |
| Einzigartigkeit der Shoah. Ein von einer modernen staatlichen Bürokratie | |
| mitorganisierter industrieller Massenmord an sechs Millionen Menschen ist | |
| einzigartig. | |
| Doch nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober in Israel scheint diese | |
| Diskussion hierzulande wie weggewischt. Der deutsch-französische Journalist | |
| Nils Minkmar, Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, postete in | |
| seinem Social-Media-Kanal den Satz: „Der Tod ist ein Meister aus Gaza.“ Das | |
| ist eine Abwandlung der berühmten Zeile aus Paul Celans Gedicht „Die | |
| Todesfuge“: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“ Das Gedicht | |
| verfasste Celan noch während des Zweiten Weltkriegs. | |
| Anfänglich verteidigte Nils Minkmar seinen Post gegen Kritik auch jüdischer | |
| Nutzer. Dann löschte er ihn doch. Immerhin. Doch diese öffentliche Äußerung | |
| eines bekannten deutschen Journalisten ist emblematisch für den Umgang | |
| vieler Deutscher mit ihrer Schuld: Abspalten und projizieren nannte man das | |
| mal in der Psychoanalyse. | |
| Die Vorgänge an einem Ort weit weg, auf den man keinen Einfluss hat, bieten | |
| eine Leinwand, auf die man seine eigene Befindlichkeit werfen kann. Denn | |
| wie man sich in deutschen Zeitungen oder deutschen Instagram-Accounts | |
| positioniert, hat so gut wie keinen Einfluss darauf, was im Nahen Osten | |
| wirklich passiert. Es ist einfach und wohlfeil, seine moralische Entrüstung | |
| kundzutun, wenn das keine Konsequenzen hat. Viel schwieriger ist es, im | |
| eigenen politischen Kontext für Gerechtigkeit und gegen Antisemitismus zu | |
| kämpfen. | |
| Am Tag nach den grausamen Angriffen der Hamas auf Juden in Israel fanden in | |
| Bayern Wahlen statt. Die guten Deutschen im wohl allerbesten und | |
| allerdeutschesten aller Bundesländer gaben den Freien Wählern 15,8 Prozent | |
| ihrer Stimmen. Der größte Aufreger der vergangenen Monate war die | |
| Enthüllung, dass Hubert Aiwanger, Vorsitzender der Freien Wähler und | |
| stellvertretender Ministerpräsident, in den 80er Jahren als Schüler in | |
| seinem Rucksack Flugblätter herumtrug, die dazu aufforderten, | |
| „Vaterlandsverrätern“ einen „Freiflug durch den Schornstein von Auschwit… | |
| zu gönnen. | |
| Weithin wurden diese Zeilen als Verharmlosung des Holocaust und damit | |
| antisemitisch gewertet. Zeugen berichteten, dass Aiwanger zu der Zeit | |
| Ansichten geäußert habe, die man als rechtsextrem werten könnte. Das alles | |
| seien Jugendsünden, ließ Aiwanger verlauten, und ohnehin, das Flugblatt | |
| habe sein Bruder verfasst, der diese Schuld auf sich nahm. | |
| Ministerpräsident Markus Söder entschloss sich nach einigem Zögern und dem | |
| Stellen einiger schriftlicher Fragen, Aiwanger nicht fallen zu lassen. | |
| Damit war die Sache gegessen. Sieht so eine zufriedenstellende | |
| Auseinandersetzung mit Antisemitismus im Deutschland des Jahres 2023 aus? | |
| Die Bürger Bayerns haben Aiwangers Freien Wählern auf jeden Fall eine | |
| Zunahme von 4,2 Prozentpunkten gegenüber dem Jahr 2019 beschert. Und jetzt? | |
| Sicher, es ist etwas fundamental anderes, ob eine Gruppe Mörder ein | |
| Massaker begeht oder ob eine Gruppe Wähler rechts Kreuze auf einem | |
| Wahlzettel macht. | |
| Aber die Gefahr des deutschen Antisemitismus sollte angesichts der Taten | |
| der Hamas nicht verharmlost werden. | |
| Die Wahl in Bayern war diesen Monat nicht die einzige Gelegenheit, über die | |
| noch immer drohende Gefahr des deutschen Antisemitismus zu reflektieren. | |
| Anfang Oktober jährte sich der Anschlag auf die Synagoge in Halle zum | |
| vierten Mal. Ausgerechnet am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur hatte | |
| ein Terrorist versucht, in den Tempel einzudringen und die versammelte | |
| Gemeinde zu ermorden. Stattdessen erschoss er zwei Passanten. Der Terrorist | |
| ist Deutscher. Laut dem jüngsten Bericht des Bundeskriminalamts zu | |
| politisch motivierter Kriminalität sind die allermeisten antisemitischen | |
| Übergriffe hierzulande dem deutschen rechten Spektrum zuzuordnen. Der Tod | |
| ist also noch immer ein Meister aus Deutschland. Für Juden in Israel geht | |
| eine Gefahr von der Hamas in Gaza aus. Aber für Juden hier in Deutschland | |
| geht die größte Gefahr nicht von Gaza aus, sondern von Bayern, von Sachsen, | |
| von Baden-Württemberg, von Brandenburg. | |
| 15 Oct 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Caspar Shaller | |
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