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# taz.de -- Verbot von Werbetafeln: Adblocker für die Stadt
> Immer mehr Städte erklären den öffentlichen Raum zur werbefreien Zone.
> Aber wer Werbetafeln demontiert, demontiert auch einen Teil der
> Öffentlichkeit.
Bild: Schon immer ein Ort der öffentlichen Verhandlung: die Reklamewand, hier …
Sie hängen an Ampeln, Bushaltestellen oder Baustellengerüsten – die Rede
ist von Werbeplakaten. Den meisten Stadtbewohner:innen fallen diese
Werbetafeln kaum noch auf, man läuft an ihnen vorbei, so wie man
Werbebanner im Netz wegklickt – obwohl sie ja irgendwie zum Stadtbild
gehören. Doch damit könnte bald Schluss sein.
Die Stadt Genf will Werbeplakate ab 2025 aus dem öffentlichen Raum
verbannen. Die links-grüne Mehrheit im Genfer Stadtrat hat vor wenigen
Wochen eine entsprechende Volksinitiative („Zéro Pub“) angenommen.
Kommerzielle Werbung schade dem Urbanismus, fördere den Überkonsum und
stelle „visuelle Verschmutzung“ dar, lautet die Kritik der Initiator:innen.
Man wolle den öffentlichen Raum daher „befreien“.
Nach dem Vorbild von São Paulo diskutieren Städte und Gemeinden auf der
ganzen Welt, ob sie ihre Innenstädte zur werbefreien Zone erklären sollen.
Die brasilianische Metropole hatte 2007 ein strenges Verbot von
Außenwerbung durchgesetzt („Clean City Law“), in dessen Folge 15.000
Plakatwände und 300.000 Ladenfront-Beschriftungen entfernt wurden.
Zahlreiche Städte wie Grenoble oder Chennai in Indien sind dem Beispiel
gefolgt.
Die Argumente für eine werbefreie Stadt sind schnell aufgezählt:
Kommerzialisierung, Hyperkonsum, Umweltverschmutzung. Bäume statt
Billboards, rufen die Werbekritiker:innen. Und auf den ersten Blick ist man
geneigt, ihnen bedingungslos zuzustimmen. Der Stelenwald von Reklametafeln
ist ästhetisch wie psychologisch eine Zumutung, an jeder Ecke springen
einen die aggressiven Kauf-mich-Botschaften an – als würde man im Internet
von Cookies und personalisierter Werbung nicht genug verfolgt.
## „Heuschreckenschwärme von Schrift“
Schon Walter Benjamin klagte in seiner 1928 publizierten Schrift
„Einbahnstraße“ über ein „dichtes Gestöber von wandelbaren, farbigen,
streitenden Lettern“: „Heuschreckenschwärme von Schrift, die heute schon
die Sonne des vermeinten Geistes den Großstädtern verfinstern, werden
dichter mit jedem folgenden Jahre werden.“
Es stimmt ja: Immer mehr städtische Flächen werden zugekleistert mit
Werbung – von Straßenbahnen über Bandenwerbung in Stadien bis hin zu
gesponserten Stadtmöbeln. Und weil die Leute nur noch auf ihr Smartphone
starren, werden die Plakate auch immer überdimensionierter, um
Aufmerksamkeit zu erzeugen. In der Smartphone-Welt, schrieb das Magazin
Curved, zähle immer noch der größte Bildschirm. Wer durch die nach den
Lockdowns wieder aufblühenden Shopping-Malls läuft, könnte denn auch
meinen, in einem werbefinanzierten Freizeitpark gelandet zu sein, einer
urbanen Version von Facebook. Ein Flyer hier, ein Gewinnspiel dort;
Rabattaktionen, wohin man blickt.
## Kommerzialisierung des urbanen Raums
Die Kommerzialisierung des urbanen Raums treibt zuweilen seltsame Blüten.
So hat McDonald’s im Rahmen einer Guerilla-Werbeaktion beim Zürifest 2010
[1][gelbe Pommes im Stile eines Zebrastreifens auf die Straße gepinselt].
Der Passant latschte quasi über eine zweidimensionale Pommestüte.
Konsumkapitalismus am Limit. Insofern, als ein Außenwerbeverbot der
kommerziellen Vereinnahmung von Städten Einhalt gebietet, ist damit auch
eine Rückgewinnung des öffentlichen Raums verbunden. So hat beispielsweise
der Street-Artist Etienne Lavie vor einigen Jahren in Paris Werbeplakate
durch historische Gemälde ausgetauscht und den Stadtraum zum Museum
gemacht. Delacroix statt Dior.
Natürlich kann man sich über einzelne Werbung, etwa Tabakwerbung oder
sexistische Werbung, streiten. Doch die Frage ist, ob sich ein generelles
Werbeverbot mit der Idee von Stadt als einer Art von verräumlichtem
Informationsaustausch verträgt.
## Werbung schon in der Antike
Bereits in antiken Städten wie Pompeji wurde Werbung für Gladiatorenkämpfe
oder auch Wahlwerbung auf Hauswände gepinselt. Im Mittelalter gingen
Weinschreier durch die Gassen und machten Reklame für Wirtshäuser. Und im
viktorianischen London liefen Menschen mit Brust- und Rückenschildern durch
die Straßen – wandelnde Werbetafeln, für die Charles Dickens den
sarkastischen Begriff der „sandwich men“ prägte.
Die Litfaßsäulen, die 1855 als „Annoncier-Säulen“ in Berlin aufgestellt
wurden, waren Kristallisationspunkte der bürgerlichen Öffentlichkeit. Jeder
konnte einen Zettel daran heften, und jeder lief daran vorbei. Und diese
Eigenschaft besitzt Außenwerbung bis heute: Man kann sie nicht abschalten,
und man kann auch nicht mit einem Werbeblocker durch die Stadt laufen.
## Zustandsanzeige der Gesellschaft
Obschon Relikte aus einer analogen Öffentlichkeit, sind diese Stadtmöbel
eine valide Zustandsanzeige der Gesellschaft. Als im ersten Lockdown die
Kulturbetriebe geschlossen wurden, waren die Werbeflächen auf den
Litfaßsäulen leer. Wenn Städte Werbetafeln nun aus ihren Zentren verbannen,
ist das nicht nur Ausdruck eines kulturellen Leerstands, sondern auch einer
Fragmentierung der Öffentlichkeit, wo jeder mit seinem Smartphone als
personalisierter Werbetafel herumläuft. Klar, es gibt dann keine
sexistischen Werbeplakate mehr in den Städten. Aber auch keine öffentliche
Debatte mehr darüber.
Dabei braucht eine offene Stadtgesellschaft Werbebotschaften wie die Luft
zum Atmen, schon allein wegen ihres konfrontativen und subversiven
Charakters. Über Werbung werden ja auch politische Botschaften
transportiert. Man denke an die Benetton-Schockwerbung über HIV-Positive in
den 90er Jahren, die eine Debatte über den Umgang mit Aidskranken und die
Grenzen des Konsumkapitalismus provozierte.
## Auch eine kulturelle „Säuberung“
Es stellt sich daher die Frage, wovon die Ad-Free-Bewegung den öffentlichen
Raum befreien will. Von kommerzieller Werbung? Von der Konsumlust? Oder
auch von politischer Werbung? Was ist mit Wahlplakaten oder
Kunstinstallationen? Erfüllt das auch den Tatbestand der „visuellen
Verschmutzung“? Kann es sein, [2][dass die Purifizierung des öffentlichen
Raums auch eine kulturelle „Säuberung“ impliziert]?
Als in São Paulo Tausende Werbeschilder abmontiert wurden, hatten viele
Bewohner:innen zunächst das Gefühl, die Megacity würde die Uniform des
Kapitalismus abstreifen. Statt Panasonic-Werbetafeln zeigte die Stadt die
Schönheit ihrer Art-déco-Gebäude, aber auch die Schroffheit ihrer Slums,
die sich vorher in das Gewand schicker Reklame hüllten. Seit einigen Jahren
ist jedoch zu beobachten, [3][dass große Marken das Außenwerbeverbot
umgehen], indem sie gesponserte Street-Art an Hauswänden anbringen lassen.
Durch diese kulturindustrielle Aneignung schafft sich Werbung eine neue
Ausdrucksform.
## Subkulturen geraten ins Visier
Die [4][Subkulturen in der brasilianischen Millionenmetropole] geraten
dabei selbst ins Visier der staatlichen „Säuberung“, etwa die Pixadores,
die sich [5][mit ihrer Kunst des pixação], einer Art Graffiti, auf
Hausmauern verewigen. Was den einen als urbane Kalligrafie gilt, ist für
die anderen schlicht Schmiererei. Die Polizei geht mit aller Härte gegen
die Straßenkünstler vor. Was zeigt, wie gefährlich es ist, ästhetische
Kriterien an Freiheit anzulegen.
Der Historiker David Henkin hat in seinem Buch „City Reading“ geschrieben,
dass im New York des 19. Jahrhunderts die Lektüre „urbaner Texte“ – von
Flugblättern über Geldscheine bis hin zu Graffiti – für die Teilnahme am
öffentlichen Leben essenziell war. Im 21. Jahrhundert scheint es dagegen
weniger um Lesbarkeit als mehr um die Kontrolle urbaner Zeichen zu gehen.
Das reicht von der Umbenennung von Straßennamen über das Aufstellen von
Tempo-30-Schildern bis hin zu Werbeverboten, wie sie nun in Genf
beschlossen wurden.
## Calvinistisches Verständnis
Die Idee eines Adblockers für Städte zeugt von einem puristischen,
calvinistischen Verständnis von Öffentlichkeit, als müsse man die
Städter:innen vor dem lasterhaften Konsumkapitalismus bewahren. Nach dem
Motto: Bloß keine nackte Haut, bloß kein Alkohol! In der urbanen
Filterblase soll jeder optische Reiz, jeder Sichtkontakt zum Frivolen
unterbunden werden.
Was auf Dauer aber blind für das Andere macht. Denn Werbung ist ein Spiegel
der Gesellschaft – und konstitutiv für die Identität von Städten. Shibuya
Crossing in Tokio oder der Times Square in New York ohne Neonlichter und
Leuchtreklame? Unvorstellbar! Würde man das Licht ausmachen, würde man
einer ganzen Stadt den Stecker ziehen. Wer Werbetafeln demontiert,
demontiert auch einen Teil der Öffentlichkeit.
10 Oct 2021
## LINKS
[1] https://www.guerilla-marketing.com/weblog/guerilla-werbeaktion-pommes-tuete…
[2] https://www.theguardian.com/cities/gallery/2015/aug/12/tokyo-without-ads-ja…
[3] https://www.marketingweek.com/sao-paulo-ad-ban-makes-marketers-more-creativ…
[4] https://cityscapesmagazine.com/articles/rewriting-the-city
[5] https://lab.org.uk/brazil-pixacao-sao-paulo%E2%80%99s-urban-calligraphy/
## AUTOREN
Adrian Lobe
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