# taz.de -- Linksliberales Debattenklima: In der Diskursbrühe | |
> Es ist eng und stickig im Bassin derer, die Kultur für die ökoliberale | |
> Mittelschicht machen. Bademeister wachen darüber, dass niemand ausschert. | |
Bild: „Wer mal draußen ist, den lassen die Bademeister nicht mehr zurück“ | |
Neulich erwachte ich aus schweren Träumen und fand mich in einem Bassin mit | |
vielen anderen, nackt in eng geschlossenen Reihen. Die Luft um uns war | |
stickig, und das warme Wasser reichte uns, je nach Größe, an die Hüfte oder | |
über den Bauchnabel hinauf. Wir blickten alle in die Richtung des | |
schmaleren Endes, wo am Beckenrand, etwas nebelhaft wegen der aufsteigenden | |
Dämpfe, irgendein Spektakel stattfand, bei dem große oder seltsame Worte | |
ins Spiel gebracht wurden. Manchmal ging beifälliges Gemurmel durch unsere | |
Reihen, manchmal war auch ein vereinzeltes „Oho!“ oder „Aha!“ zu hören. | |
Dann trat wieder eine gespannte Stille ein: vorne wurde irgendeine Änderung | |
vorgenommen. | |
Meine Augen und Ohren wollten sich noch nicht recht an die Gegebenheiten | |
anpassen. Und die angenehme Temperatur entschädigte mich nur wenig für die | |
drangvolle Enge, die hier herrschte, wo ich offenbar meinen Platz hatte, | |
denn niemand schien überrascht über mein Hiersein. | |
„Verzeihung“, wandte ich mich an den Herrn zur Rechten, gegen den ich mich | |
wider Willen gedrückt fühlte. „Stehen wir schon lange so hier?“ „Was isn | |
das fürne Frage!“, kam es mürrisch zurück. „Eine einfache?“, gab ich | |
zögernd zurück. „Sie müssen ihn entschuldigen. Er ist scheiße drauf, seit | |
man Sie zwischen uns geschoben hat“, erklärte die Dame zu meiner Linken. | |
„Wer tut denn so was?“, fragte ich erstaunt. Rundherum Lachen. | |
„Amnesie! Ich verstehe“, seufzte die Dame. „Ab und zu müssen wir hier al… | |
möglichst viel vergessen, damit wir nicht den Verstand verlieren“. „Ich hab | |
schon lange nichts mehr vergessen!“, trumpfte der Herr zur Rechten auf, was | |
ihm ein paar hämische „Tja …“ einbrachte. Er verstummte wie einer, der a… | |
Prinzip schlechte Laune hat. | |
Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte: „Was machen wir denn hier?“ | |
Wiederum dies verhaltene Lachen. „Kultur!“, tönte es von allen Seiten | |
zurück. „Wir [1][machen Kultur] für die öko-liberale Mittelschicht.“ „… | |
in diesem Bassin? In dieser Enge?“ „Ha, Sie können ja rausgehen, wenn es | |
Ihnen hier nicht gefällt.“ Das war genau, was ich im Sinne hatte, und ich | |
wollte mich gerade zur Seite wenden. Wieder dieses verdruckste Gelächter. | |
Es fing an, mir auf die Nerven zu gehen. | |
„Das war ein Scherz“, sagte jemand hinter mir sarkastisch. „Hier kommt man | |
nicht so leicht raus.“ Ich versuchte mich umzudrehen, was mir nach einigen | |
Mühen schließlich gelang. „Was starren Sie mich denn so an?“, fuhr mich d… | |
Dame hinter mir an. „Verzeihung“, sagte ich leise, „ich wollte niemanden | |
anstarren. Nur irgendwo anders mal hinschauen.“ „Nichts da!“, schallte es | |
von verschiedenen Seiten, und: „Da vorne spielt die Musik.“ Und so wurde | |
ich wieder umgedreht. | |
„Ich will hier raus!“, rief ich, der Verzweiflung nah. „Sie haben wirklich | |
alles vergessen, was?“, meinte die wohlwollende Dame neben mir. „Ich | |
erkläre es Ihnen: Wir stehen hier in diesem Becken, während vorne, nun ja, | |
die Musik spielt. Wer es schafft, immer weiter nach vorn zu kommen, also | |
sobald sich irgendwo eine Lücke auftut …“ „Woher kommen solche Lücken?�… | |
wagte ich zu fragen. „Nun, manche werden einfach aus dem Spiel genommen, | |
weil sie zu inaktiv sind oder nur noch maulen“ (dies mit einem scharfen | |
Blick zu ihrem Ex-Partner), „das machen die Bademeister. Die Bademeister | |
machen hier alles. Sie achten darauf, dass sich niemand seitwärts | |
verdrückt.“ | |
„Es geht darum, immer weiter vorzurücken“, wurde ich weiter belehrt. „We… | |
eine Stelle frei wird, muss man sehen, dass man sich hineindrängt. Dabei | |
gibt es aber so viel Bewegung, dass mehrere auch wieder nach hinten | |
rücken.“ „Das ist ja furchtbar!“ „Uns hier gefällt das. Dafür sind w… | |
schließlich da. Sie hätten ja nicht reinkommen brauchen.“ Ich beschloss, | |
mich etwas zurückzuhalten, denn es drückte von allen Seiten, sodass ich | |
Angst bekam, unter Wasser gedrückt zu werden und elend zu ersaufen. Und | |
dann hörte ich auch die Pfiffe und Schreie der Damen und Herren | |
Bademeister. „Das ist die Gemeinheit“, flüsterte jemand mir zu. „Immer w… | |
sie einen aus dem Wasser holen, drücken sie zwei in die frei gewordene | |
Stelle. So wird es hier immer enger.“ | |
„Also, ich würde mich sehr gern aus dieser Brühe herausholen lassen.“ „… | |
wissen wohl nicht, wie kalt es da draußen ist? Wer mal draußen ist, den | |
lassen die Bademeister nicht mehr zurück.“ „Es gibt nur einen Weg! Sie | |
müssen nach vorn. Da hat man Platz, das sieht man alles besser, da kann man | |
mitmachen, da wird man gehört.“ „Und dann?“ „Dann werden Sie Teil der | |
Vorstellung oder können selber Bademeister werden.“ | |
„Aber die Welt ist doch riesengroß“, wagte ich zu protestieren. „Was mac… | |
wir in diesem muffig-engen Bassin?“ „Wir machen Geschmack. Wir machen | |
Überzeugungen!“ „Vor allem geht es um Worte. Ein Wort ist wie ein Virus. Es | |
lebt erst, wenn es einen Wirt gefunden hat. Zum Beispiel einen Satz. Und so | |
ein Satz ist wie eine Krankheit. Die breitet sich aus, zum Beispiel in | |
einem Buch, oder in einem Beziehungsstreit oder in einer Politikerrede. Und | |
wir, wir sind die Symptome. An uns erkennen die Bademeister die | |
Fortschritte.“ | |
„Wir sind der Fortschritt“, sagte jemand stolz und drängte derb einen | |
anderen zurück. „Man wirft uns von vorn die Worte zu, wir machen Sätze | |
daraus, und aus den Sätzen werden [2][Überzeugungen], und aus den | |
Überzeugungen …“ | |
Nun, da ich wieder wusste, wo ich hingehörte, wennzwar mir nicht bewusst | |
war, jemals freiwillig in dieses Becken gestiegen zu sein, ergriff mich | |
eine große Mattigkeit. Und in einem Moment relativer Ruhe schlief ich ein, | |
von eng an eng stehenden Mitbassinbewohner*innen gestützt. Und ich | |
träumte, ich sei Kolumnist in einer irgendwie linken Tageszeitung und ich | |
hätte Leserinnen und Leser, die ich auf eine wundervolle, weite und freie | |
Welt ohne lauwarmes Wasser, Bademeister und Drängeleien aufmerksam machen | |
könnte. Woran man wieder einmal sehen kann, was für einen Blödsinn man | |
zusammenträumt, wenn man im [3][Kulturbassin] der ökoliberalen | |
Mittelschicht steht. | |
9 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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