| # taz.de -- Sozialhistoriker über Diskussionskultur: „Wir müssen über Fair… | |
| > Die Gesprächskultur hat sich verändert, sagt Sven Tetzlaff von der | |
| > Körber-Stiftung. Mit dem Literaturhaus startet die eine | |
| > Veranstaltungsreihe dazu. | |
| Bild: Geht schnell ohne Hemmungen ab: Online-Kommunikation | |
| taz: Herr Tetzlaff, warum ist es gerade jetzt wichtig, sich damit zu | |
| beschäftigen, wie wir miteinander sprechen und kommunizieren? | |
| Sven Tetzlaff: Weil sich die Gesprächskultur in den letzten Jahren | |
| dramatisch verändert hat: das Aufkommen von Shitstorms, es wird [1][immer | |
| schriller und empörter] gestritten. Da fragt man sich natürlich: Wie können | |
| wir wieder zu einer zivilen Gesprächskultur zurückfinden? | |
| Wie kann denn ein konstruktiver Dialog über teilweise emotionale Themen | |
| gelingen? | |
| Das ist eine Herkulesaufgabe. Das Problem ist, dass man durch soziale | |
| Medien schnell aktiv werden kann, wenn man sich emotional angesprochen oder | |
| angegriffen fühlt. Da genügt dann ein Knopfdruck, um zu reagieren. Das | |
| Entschleunigen der Reaktion ist meiner Ansicht nach schon mal ein | |
| Hilfsmittel. Wir müssen auch über Fairness sprechen. Wie kann man fair sein | |
| und Empathie stärken? Da sollte jeder sich selbst befragen. | |
| Haben sich Diskurse über Sprache und Kunstfreiheit in den vergangenen | |
| Jahren verengt – oder sind sie vielfältiger geworden? | |
| Es beteiligen sich mehr am Sprechen. Das ist in einer offenen Gesellschaft | |
| erst mal gut. Dadurch entsteht natürlich auch Reibung. Das ist auch gar | |
| nicht zu kritisieren. Es fängt an, problematisch zu werden, wenn Positionen | |
| vertreten werden, die andere Meinungen und Sprechweisen ausschließen oder | |
| abwerten wollen. | |
| Darf man bestimmte Sachen heute nicht mehr sagen? | |
| Das es ausgesprochene Verbote gibt, die einem verbieten etwas zu sagen, | |
| sehe ich nicht. Wir sehen aber, etwa bei der [2][gegenderten Sprache], dass | |
| Menschen den Eindruck haben, dass ihnen etwas vorgeschrieben wird. In | |
| meiner Arbeit für die Stiftung spreche ich auch mit Menschen, die sich | |
| ausgegrenzt fühlen, weil sie sich möglicherweise falsch geäußert haben. | |
| Dieser Eindruck schlägt sich nieder in der Popularität des Begriffs | |
| „[3][Cancel Culture]“. | |
| Das muss man erst mal ernst nehmen. Es stehen sich bestimmte Haltungen | |
| gegenüber: Die einen möchten über Sprache bestimmte Werte ausdrücken, und | |
| die anderen sagen, dass sie sich einer Sprachpolizei unterwerfen müssen. | |
| Wenn sich die jeweiligen Positionen radikalisieren, ist das nicht | |
| hilfreich. Diese Konflikte, die wir sehen, können aber auch ein Zeichen von | |
| Fortschritt sein. | |
| Inwiefern? | |
| Sie zeigen zunächst einmal, dass eben mehr Leute an einem Tisch sitzen. Wie | |
| man dann miteinander umgeht, muss man aushandeln. Darin kann jetzt nicht | |
| per se das Problem liegen. Aber vermeintliche Sprachverbote oder | |
| Zuweisungen in bestimmte Schubladen sind nicht sehr hilfreich. | |
| Stehen sich etwa in der [4][Gender-Debatte] zwei Gruppen unversöhnlich | |
| gegenüber? | |
| Hier ist viel Spannung entstanden. Man muss immer hingucken, wo solche | |
| polarisierenden Diskussionen stattfinden. In der medialen Berichterstattung | |
| bekommt man leicht den Eindruck, wir wären eine gespaltene Gesellschaft und | |
| es gäbe eigentlich nur noch zwei Gruppen. Das muss man mit der eigenen | |
| Situation abgleichen: Familie, Freundes- und Freizeitkreisen. Ich habe | |
| nicht das Gefühl, dass ich ständig durch eine hochgradig polarisierte | |
| Gesellschaft laufe. Dieser Eindruck kann durch Social Media entstehen, aber | |
| wir haben immer noch Medien, große Verlage, Zeitungen, Zeitschriften und | |
| Sendeanstalten, wo es genug Raum für Abwägungen gibt, um Dinge | |
| auszudiskutieren. Ich würde nicht sagen, dass die gesamte Öffentlichkeit | |
| sich in zwei Lager teilt und polarisiert ist. | |
| Wie lässt sich eine offene Diskussionskultur schaffen, ohne radikalen | |
| Aussagen zu viel Raum zu geben? Man denke etwa an die [5][Verharmlosung des | |
| Nationalsozialismus bei den Corona-„Spaziergängen“]. | |
| Ich meine, den radikalen Positionen darf man gar keinen Raum geben. Wir | |
| reden in dieser Reihe über liberale Gesprächskulturen, aber auch in | |
| liberalen Kulturen gibt es eindeutige Grenzen: Antisemitismus, | |
| Menschenfeindlichkeit, Ausgrenzung. Wer das vertritt, der möchte sich nicht | |
| an einen Tisch setzen. Jenseits von solchen Stimmen gilt es, erst mal | |
| zuzuhören, abzuwägen und dann konstruktiv zu streiten. | |
| 31 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gruenen-Aufruf-gegen-Cancel-Culture/!5763818 | |
| [2] /Genderverbot-beschlossen/!5827892 | |
| [3] /cancel-culture/!t5709848 | |
| [4] /Gendersternchen-in-Bremerhaven/!5830072 | |
| [5] /Holocaust-Verharmlosung-in-Berlin/!5828866 | |
| ## AUTOREN | |
| Lenard Brar Manthey Rojas | |
| ## TAGS | |
| Hamburg | |
| Shitstorm | |
| Kommunikation | |
| Soziale Netzwerke | |
| Soziale Spaltung | |
| taz.gazete | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Theater Bremerhaven | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Linksliberales Debattenklima: In der Diskursbrühe | |
| Es ist eng und stickig im Bassin derer, die Kultur für die ökoliberale | |
| Mittelschicht machen. Bademeister wachen darüber, dass niemand ausschert. | |
| Zum Umgang mit gefühlter Wahrheit: Keine Diktatur. Punkt | |
| Mit Austausch und Aufklärung versuchen wir, der quer denkenden | |
| Gegenöffentlichkeit zu begegnen. Doch nicht jeder Quatsch verdient eine | |
| Überprüfung. | |
| Theaterstück „Ode“ in Bremerhaven: Abrechnung mit der Cancel Culture | |
| Mit „Ode“ zeigt die neue Intendanz des Bremerhavener Stadttheaters ein | |
| Manifest für die Freiheit der Kunst. Ansonsten ist die Eröffnungsspielzeit | |
| mau. | |
| Populisten-Hochburg Facebook: Teile und herrsche | |
| Facebook behauptet, die Welt näher zusammenzubringen. Doch immer mehr zeigt | |
| sich, wie das Netzwerk Menschen auseinandertreibt – und Populisten stärkt. |