| # taz.de -- Theaterstück „Ode“ in Bremerhaven: Abrechnung mit der Cancel C… | |
| > Mit „Ode“ zeigt die neue Intendanz des Bremerhavener Stadttheaters ein | |
| > Manifest für die Freiheit der Kunst. Ansonsten ist die | |
| > Eröffnungsspielzeit mau. | |
| Bild: Regisseurin Marion Pfrunder entwickelt in Bremerhaven klar konturierte Th… | |
| Neue Leitung sucht frische Zustimmung. Das Stadttheater Bremerhaven | |
| erzwingt sie. Während Websites vieler Kulturanbieter dem Besucher | |
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| gestalten, erfährt nur derjenige mit wenigen Klicks etwas über die | |
| Bühnenkunst an der Wesermündung, der den möglichen Spionage-Aktivitäten auf | |
| seinem Rechner zustimmt. | |
| Freiwillige Zustimmung provozieren soll hingegen das Programm der ersten | |
| Spielzeit des [1][aus Schwerin an die Weser gewechselten] Intendanten | |
| [2][Lars Tietje]. Bringt er doch erst mal populäre und anschmiegsame Werke | |
| auf die Bühne: das von den Abba-Jungs komponierte Musical „Chess“, | |
| Jacques-Offenbach-Oper, Mozart-Singspiel und Paul-Abraham-Operette feiern | |
| Premiere, bevor im April nächsten Jahres mit „Oceane“ von Detlev Glanert | |
| auch mal etwas gewagt wird. Das Schauspiel setzt im großen Haus auf | |
| Well-made-Comedy, boulevardeske Komödie, Musical und mittendrin, als | |
| antiker Fels in der lustigen Brandung, auf drei Aufführungen der | |
| „Eumeniden“ des Aischylos. Wow-Effekte – Fehlanzeige. | |
| Auch bei den Publikationen des Hauses. Programmhefte und Spielzeitbuch sind | |
| layouterisch mal durchgelüftet worden, eine neue Schrifttype fürs Logo ist | |
| implantiert, aber sonst wird das Erscheinungsbild des Vorgängers Ulrich | |
| Mokrusch weitergeführt. Setzt Tietje auf Kontinuität? Auch dazu schweigt | |
| sein inhaltsfreies Editorial fürs Spielzeitheft mit vielen warmen Worten. | |
| Geradezu übermütig heraufordernd wirkt dann die „Ode“ von Thomas Melle als | |
| Solitär im Saisoneröffnungsreigen: eine funkelnde Abrechnung mit der Cancel | |
| Culture des Kunstbetriebs. Hierzu lässt der Autor diverse Meinungen, | |
| Argumente und Welterklärungsmuster aufeinanderprallen. Ob sie virulent in | |
| der Bremerhavener Stadtgesellschaft sind, ist angesichts von 17 Zuschauern | |
| in der von mir besuchten Vorstellung kaum festzustellen. | |
| Konkret rebelliert die Inszenierung von Manon Pfrunder gegen links- und | |
| rechtspolitisch moralisierenden, tugendwächterischen Reinigungswahn im | |
| sozialen Miteinander und künstlerischen Ausdruck. Alles beginnt mit der | |
| Enthüllung des Kunstwerks „Ode an die alten Täter“, das sich schnell im | |
| Wortsinne als lauwarme Luft erweist. | |
| Schlichter Jux oder erhellender Tabubruch? „Es ist monumental, weil es | |
| nichts ist“, so wird das Werk im Vernissagen-Jargon bejubelt, als | |
| unverständlich und geldverschwenderisch aber auch zum Skandal gehypt von | |
| einem Beckmesser-Typ (Richard Feist) der „Wehr“, eine Gruppe besorgter | |
| Bürger, die kulturkonservativ bis rechtsnational mit dem Waffenarsenal | |
| daheim protzt und Nationalkultur, Brauchtum, Originalkostüme sowie leichte | |
| Verständlichkeit einfordert. | |
| Damit konfrontiert findet auch die linke Kulturschickeria die Ode an Täter | |
| nicht mehr opportun, der Faschismusvorwurf gärt. Die Künstlerin verliert in | |
| dieser aufgeheizten Atmosphäre ihre Reputation und ihren Job. Sie heißt | |
| Fratzer und muss wie Fatzer, das von der Gesellschaft ausgestoßene | |
| Rebell-Individuum des Brecht-Theaters, schließlich sterben. Bringt sich in | |
| diesem Fall selbst um, weil die persönliche Authentifizierung ihres | |
| Anliegens nicht fruchtete. | |
| Ihre nicht Bild gewordene, konzeptionelle „Ode an die alten Täter“, so die | |
| Künstlerin, sei ein Appell, Ambivalenzen des Lebens auszuhalten. Konkret | |
| gelte sie den Nazis, die ihren Großvater umgebracht und ihn so daran | |
| gehindert hätten, weiter zu vergewaltigen und zu morden. Wäre er nicht | |
| getötet worden, hätte er seine Familie umgebracht. | |
| Im Bösen könne auch was Gutes liegen und umgekehrt, eine solche These | |
| verhallt im aufgeregten Kommunikationsklima der einfachen, eindeutigen | |
| Wahrheiten von Hasspostings, Shitstorms, Denunziationskampagnen und | |
| Impfverweigererdemos. Als einen Grund nennt das Stück, der emanzipatorische | |
| Geist sei aus den Diversitäts-, Gender-, Identitätsdebatten gewichen. | |
| Kritisiert wird, dass Verbote des Sprechens, Denkens und Handelns ein | |
| Repressionsklima mit totalitären Anwandlungen schaffen würden. | |
| Im 2. Teil der Aufführung will Regisseur Orlando (Kay Krause) das von | |
| Gewalt getragene Engerziehen der Kunstgrenzen für die Bühne inszenieren, | |
| weil draußen vor den Theatertoren die Wehr zunehmend die Macht übernimmt. | |
| Das wird aber zunehmend ausgeblendet, da die Bühnenkünstler an ihren | |
| internen Kabbeleien scheitern, wer wen spielen, Anweisungen geben oder | |
| überhaupt etwas sagen darf. | |
| Man dürfe nicht mehr darstellen, heißt es, nur über sich selbst sprechen | |
| und sein Ich repräsentieren, was ja nun wiederum ein höchst fragwürdiges | |
| Konstrukt ist. Vergeblich kämpft Orlando gegen eine Kunst, die sich auf | |
| politisch korrekte (Wunsch-)Realitäten beschränken will, denn so schaffe | |
| sich beispielsweise Theater als Stachel im Fleische der Gesellschaft selbst | |
| ab und habe den neuen und alten Rechten nichts mehr entgegenzusetzen. | |
| Die Regie entwickelt aus den unterschiedlichen Haltungen klar konturierte | |
| Thesenträger-Figuren und kämpft ansonsten damit, mehr als eine | |
| Publikumsansprache inszenieren zu wollen. Mal versucht’s Manon Pfrunder mit | |
| Schattenspiel, mal lässt sie Passagen im NDW-Klangdesign singen. Kein | |
| vollends überzeugender Zugriff. Da die Debatten aber in prima zugespitzter, | |
| satirischer Deutlichkeit formuliert sind, das eiskalte Pathos ihrer | |
| ideologischen Basis aufscheint, entfaltet sich der Abend durchaus als | |
| Manifest für die Freiheit der Kunst. | |
| 10 Nov 2021 | |
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| Jens Fischer | |
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