# taz.de -- Konflikte im Theater: Spielst du noch? Lehrst du schon? | |
> Theater kann eine Zumutung sein. Oft aber mangelt es bei Themen der | |
> Gender- und Identitätspolitik an Reibung. Eine Suche nach offenen | |
> Denkräumen. | |
Bild: Ein tragischer Kreislauf aus Gewalt: Szene aus „[Blank]“ von Alice Bi… | |
Gewalt regiert die Welt, und zwar in einem eiskalten Stakkato in Alice | |
Birchs Stück „[Blank]“: Ein Mann vergewaltigt ein junges Mädchen. Das | |
Mädchen wird schwanger. Seine Mutter tötet den Mann. Schnitt, ein anderer | |
Fall: Eine Frau trinkt und vernachlässigt ihr Kind. All dieses Grauen und | |
noch vieles mehr ereignet sich in einem Sündenpfuhl aus Drogen, Alkohol und | |
sozialer Verwahrlosung. | |
Das schlimmste Faktum dieser markerschütternden Aufführung des Badischen | |
Staatstheaters Karlsruhe: Sie kennt keinen Abgrund, sondern nur eine | |
endlose Spirale des Missbrauchs, insbesondere an Kindern und Frauen. Da | |
dieser tragische Kreislauf kein Ende nimmt, hat sich die Regisseurin | |
[1][Anna Bergmann] in ihrer Uraufführung von „[Blank]“ für eine riesige | |
Rondellbühne entschieden. Gedreht wird sie von den Figuren des Dramas, die | |
dadurch allesamt als Sklaven ihres Schicksals erscheinen. Nichts ist | |
veränderbar, nichts bleibt verborgen. | |
Zweifelsohne handelt es sich bei dieser Inszenierung um eine buchstäbliche | |
Zumutung, spart doch die Regie nicht an harten Bildern. Selten hat man | |
toxische Männlichkeit und den Konflikt zwischen Rollen- und | |
Geschlechtsbildern so brutal auf einer Bühne erlebt. | |
Während sich dieses Schauspiel mit überzeugender Drastik zentralen Fragen | |
der Gender- und Identitätspolitik stellt, werden diese | |
gesellschaftsrelevanten Themen von vielen Bühnen aktuell anders | |
aufgegriffen und verarbeitet. Die Auseinandersetzungen mit | |
unterschiedlichen Formen von Differenz oder Andersartigkeit fördert dabei | |
vielerorts einen nicht unbedenklichen Charakter von Theater zutage. | |
## Diskriminierung und Heuchelei | |
Zum Beispiel in „R-Faktor“ von Ayşe Güvendiren, einer Abschlussinszenieru… | |
der Otto-Falkenberg-Schule: In einer komischen Anlehnung an die | |
Mystery-Ästhetik des alten TV-Formats „X-Factor“ wird das Publikum knapp | |
zwei Stunden mit Diskriminierungen im Kulturbetrieb konfrontiert. Man | |
erfährt von den immer wiederkehrenden No-go-Fragen an People of Color im | |
Schauspielbetrieb: Woher kommen Sie? Und wie kann man Sexszenen darstellen | |
und zugleich ein Kopftuch tragen wollen? | |
Ähnliche Problemfelder deckt Gerhild Steinbuchs am Schauspiel Frankfurt zu | |
sehendes Drama „In letzter Zeit Wut“ auf: Hier blicken wir auf eine Art | |
Arena, in der es hoch hergeht. Während ein klischierter Chef namens Horst | |
sich zum heuchlerischen Kämpfer für Frauenrechte stilisiert, rekapitulieren | |
vier Frauen ihre tatsächlich wenig erbaulichen Erfahrungen in | |
Bewerbungsgesprächen und die sich daran anschließende Ausbeutung im – ach | |
so nicen und hierarchielosen – Betrieb. Bald schon schmettern sie uns alle | |
chauvinistische Sprüche von Männern à la „Bist du immer so hysterisch oder | |
nur unterfickt?“ entgegen. | |
Es soll hier nicht bezweifelt werden, dass solche Inszenierungen | |
tatsächlich noch immer zu beklagende Missstände anprangern und ein Wegsehen | |
oder Totschweigen von dieser Realität gänzlich fehl am Platz wäre. Nur muss | |
die Frage erlaubt sein, was die schiere Häufung derartig gelagerter | |
Aufführungen überhaupt im Theater bezwecken soll und wen sie adressieren? | |
Werden sie wirklich von denen nachdenklich wahrgenommen, die für die | |
desaströsen Zustände verantwortlich sind oder zeigen sich nicht vielleicht | |
doch Tendenzen einer zunehmend selbstzirkulären Theaterbranche? Sicher | |
ist davon auszugehen, dass ein Großteil des zumeist emphatisch | |
applaudierenden Publikums sich völlig auf der Höhe des aktuellen Diskurses | |
um Gerechtigkeit bewegt. Es ist bestens zu Hause in den universitären | |
Debatten über Patriarchalismus und Kolonialismus, wie sie von Schriften | |
einer Judith Butler oder einer Donna Haraway motiviert wurden. | |
Nimmt man dies an, so dienen die Bühnenanklagen zumeist augenscheinlich der | |
Bestätigung einer gewiss wichtigen, kritischen Weltsicht. | |
## Überdenken eigener Haltungen | |
Was dieses von Oberseminaren inspirierte Theater allerdings nur noch | |
begrenzt einlöst, ist das Versprechen der Alterität. Es bietet kaum Raum | |
für Überraschungen oder emotional tief ergreifende Augenblicke, es mangelt | |
ihm an Reibungsfläche und Widerständen, die einen zum auch einmal | |
unbequemen Überdenken eigener Haltungen provozieren. | |
Zu den wenigen Stücken, die diese identitätspolitische Dominanz skeptisch | |
betrachten und ihr gar mit einer gehörigen Portion Polemik begegnen, zählt | |
[2][Thomas Melles am Deutschen Theater Berlin uraufgeführte „Ode“] (2019), | |
das sich immerhin zahlreicher, teils auch preisgekrönter Nachspiele | |
erfreuen darf. Hierin nehmen wir daran teil, wie ein alter Darsteller Opfer | |
von einer Gruppe von Normrigoristen wird. Sie verfügen über das gesamte | |
Rüstzeug gegen einen weißen, heteronormativen, chauvinistischen, misogynen | |
und rassistischen Kulturbetrieb. Und sie sind zornig und zu allem bereit. | |
Und so fesseln die Wahrheitsapologeten in einer jüngeren Inszenierung des | |
Textes am Schauspiel Köln den für sie das Feindbild schlechthin | |
repräsentierenden Mann. | |
Rafael Sanchez, Regisseur der Kölner Inszenierung, sagte dazu in einem | |
Nachtkritik-Interview vom März dieses Jahres: „Ich bewundere Menschen sehr, | |
die tagtäglich Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus am eigenen Leib | |
erfahren und sich weiterhin geduldig für eine bessere Gesellschaft | |
engagieren. Ich muss aber gestehen, dass ich auch ein großes Verständnis | |
habe und Sympathie hege für marginalisierte Gesellschaftsschichten, deren | |
Geduldsfaden gerissen ist. Dass man als Betroffene:r kaum von Staat und | |
Gesellschaft unterstützt wird und auf sich selbst gestellt ist und sich | |
selber schützen muss, ist eine gesellschaftliche Bankrotterklärung. Und | |
wenn man dann auch noch beschuldigt wird, sich abzugrenzen und einen Keil | |
in genau diese Gesellschaft zu schlagen, dann ist das einfach nur eine ganz | |
miese Täter-Opfer-Umkehr.“ | |
## Distanz beziehen | |
Die eine Sorge gegen die anderen auszuspielen, mag keine gute Option sein. | |
Ob bei Diskriminierungen wegen jeder Art von Andersartigkeit oder bei | |
tatsächlich materieller Ausbeutung – Repression basiert stets auf ähnlichen | |
Mechanismen. Doch sobald das Theater gebetsmühlenartig seinen zumeist | |
ohnehin in der Sache schon sensibilisierten Zuschauerinnen und Zuschauer | |
immer wieder dieselben Botschaften präsentiert oder – zugespitzt gesagt – | |
es darüber belehrt, verliert es einen Teil seiner Schlagkraft. Und nicht | |
nur das, es wird auf eine paradoxe Weise unpolitisch. | |
Nachdem noch das Theater des Aristoteles sein Publikum zur mitfühlenden | |
Identifikation einlud, kam spätestens mit Bertolt Brecht die wichtige, | |
gesellschaftskritische Wende. Erst wenn das Publikum Distanz zur | |
Darstellung beziehen kann, denkt es über eigene Positionen und das, was es | |
sieht, wirklich nach, so die Idee hinter dieser Konzeption. Je | |
besserwisserischer und eindeutiger Theater sich allerdings gebärdet, desto | |
weniger bedarf es der die Welt kritisch hinterfragenden Zuschauerinnen und | |
Zuschauer. Sie sollen Aussagen herunterschlucken und am besten unentwegt | |
wiederkäuen. | |
Wo sind also die Zwischenräume geblieben? Wo die Ambivalenz? Wo findet man | |
noch, um es mit dem Theaterwissenschaftler Florian Malzacher zu sagen, „die | |
Kunst, die selbstreflexiv ist, aber nicht in die Falle der | |
Selbstreferentialität tappt“? – „eine Kunst, die politische Themen nicht | |
als lautstarke Klischees aufgreift, dennoch klare Positionen wagt und dabei | |
sowohl innere als auch äußere Widerstände aushält“? | |
Sicher, man findet sie noch. Aktuell beispielsweise in dem am Staatstheater | |
Mainz zu sehendem Stück „Der Vorfall“. Hierin verhandelt die Autorin | |
Deirdre Kinahan eine zurückliegende Vergewaltigung ihrer Protagonistin. Als | |
jene Jahre danach ihrem Peiniger wieder begegnet, brechen alte Narben auf. | |
Weil die Erinnerungen daran eigentlich nie weg waren, befinden sich auf der | |
Bühne daher oftmals Frauen in Partykleidern. Für die Figuren sind sie | |
unsichtbar und doch fungieren sie als menschliche Mahnmale, als Geister, | |
die nie weg waren. | |
Solche Zugriffe gelingen, weil sie sich ureigenster Mittel des Theaters | |
bedienen. Sie setzen auf schauspielerische Verve, auf stringente | |
Entwicklung von Bildern und Szenen, auf gehaltvolle Dialoge, die nicht | |
einer unmittelbaren didaktischen Ambition entspringen. Und sie bauen auf | |
dem emotionalen und gleichsam wachrüttelnden Elan der Gesamtkomposition aus | |
Musik, Text und Kulisse. Es braucht also kein Oberseminar auf dem Parkett, | |
um Dekonstruktion zu vermitteln, sondern letztlich ein Theater, das vor | |
allem sich selbst vertraut. | |
5 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Anna-Bergmann-am-Badischen-Staatstheater/!5652805 | |
[2] /Thomas-Melles-Stueck-Ode-in-Berlin/!5652155 | |
## AUTOREN | |
Björn Hayer | |
## TAGS | |
Theater | |
Essay | |
Identität | |
Gender | |
Schauspiel | |
Vergewaltigung | |
Antisemitismus | |
Theater | |
taz.gazete | |
Theater | |
Theater | |
Theater Bremerhaven | |
Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Theaterstück „Prima Facie“: Die Verstörung der Opfer | |
Das Drama „Prima Facie“ fragt, wie Vergewaltigung wirksam verfolgt werden | |
kann. 15 deutschsprachige Theater haben das Stück im Spielplan. | |
Antisemitimus-Vorwurf im Theater: Der Identity-Komplex | |
Nach Antisemitismusvorwürfen setzt das Metropoltheater München eine | |
Inszenierung von Wajdi Mouawads „Die Vögel“ ab. | |
Diversität im Theater: Mit fremden Federn geschmückt | |
Wenn große Repertoiretheater mit der freien Szene zusammenarbeiten, wird | |
ihr Angebot vielfältiger. Aber sie verlieren auch den Kern ihrer Marke. | |
Schauspielerin über freiberufliches Arbeiten: „Fehler machen dürfen!“ | |
Streiten und Meinungen aushalten, davon lebt auch das Theater. Aber das | |
wird zunehmend schwieriger, wie die Schauspielerin Julischka Eichel | |
erzählt. | |
Satirische Parabel auf den Kapitalismus: Der Konkurrent lernt schnell | |
Die Schaubühne Berlin hat einen Roman von Karel Čapek wiederentdeckt. | |
Daraus inszeniert Clara Weyde „Der Krieg mit den Molchen“. | |
Theaterkonferenz „Burning Issues“: Moderierte Revolution | |
Die Konferenz „Burning Issues“ begleitet das Theatertreffen in Berlin. | |
Vorgestellt wurden Alternativen zu veralteten Machtstrukturen an Theatern. | |
Theaterstück „Ode“ in Bremerhaven: Abrechnung mit der Cancel Culture | |
Mit „Ode“ zeigt die neue Intendanz des Bremerhavener Stadttheaters ein | |
Manifest für die Freiheit der Kunst. Ansonsten ist die Eröffnungsspielzeit | |
mau. | |
Musical über kulturelle Aneignung: Glaub an mich | |
Das Musical „Slippery Slope“ im Berliner Maxim Gorki zeigt: Theater macht | |
Spaß. Auch wenn unsicher bleibt, wie viel Ernst in der Sache steckt. |