# taz.de -- Schauspielerin über freiberufliches Arbeiten: „Fehler machen dü… | |
> Streiten und Meinungen aushalten, davon lebt auch das Theater. Aber das | |
> wird zunehmend schwieriger, wie die Schauspielerin Julischka Eichel | |
> erzählt. | |
Bild: Julischka Eichel vermisst mehr „angstfreie Räume, in denen alle sich t… | |
Die Schauspielerin Julischka Eichel macht es sich und anderen nicht bequem. | |
Im Lockdown hat sie einen offenen Brief an die damalige | |
Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur desolaten rechtlichen und | |
finanziellen Situation freiberuflicher Schauspieler*innen geschrieben. | |
Vor Kurzem ist ihr Versuch, ihren feinstofflichen Beruf zu (be)greifen und | |
gegen Einschränkungen zu verteidigen, [1][auf nachtkritik.de erschienen]. | |
taz: Julischka Eichel, während Journalisten in Schauspieler*innen-Porträts | |
gerne mit Begriffen wie „Liebe zum Risiko“ oder „Grenzüberschreitung“ … | |
sich werfen, haben Sie Ihren Kolleg*innen eine neue Ängstlichkeit | |
diagnostiziert. Woran machen Sie sie fest? | |
Julischka Eichel: Da muss ich über die Proben und das Spiel sprechen, die | |
beide dafür da sind, etwas entstehen zu lassen, was mich selbst überrascht. | |
Das aber bedeutet, ich muss etwas tun, was mich aus meiner Komfortzone | |
bringt, mir vielleicht auch Angst macht. Dafür brauche ich Vertrauen. Und | |
irgendwie ist das erschüttert. | |
Woher rührt dieser Vertrauensverlust? | |
Ich frage mich das selbst, und jeden Tag habe ich eine andere Antwort. Man | |
geht nicht mehr gemeinsam davon aus, dass man an eine Grenze ranmuss. An | |
seine eigene und an die des anderen. Und das ist fatal, denn alle Stoffe im | |
Theater leben von Grenzüberschreitungen. Unsere Kunst ist eine | |
Beziehungskunst und Beziehungen haben mit Konflikten zu tun, mit Energien, | |
die aufeinandertreffen. Dahin kommen wir aber oft gerade nicht, weil wir | |
immer so viele andere Dinge klären müssen. | |
Was für Dinge? | |
Dinge, die wir für allgemeingültig halten und deshalb nicht mehr | |
hinterfragen. Zum Beispiel Begriffe wie „Stärke“, „Mann sein“, „Frau… | |
„Liebe“, „Tod“, über die scheinbar alle Bescheid wissen – und beim P… | |
wird dann klar, dass nichts klar ist, weil doch alle unterschiedliche | |
Erfahrungen und ein anderes Verständnis von dem Begriff haben. Wenn wir | |
dann aus Angst vor Konflikten nicht sprechen, dann geht auch das Vertrauen | |
zueinander weg. Und natürlich müssen wir fragen in unserem Beruf. Ich muss | |
Fehler machen dürfen. | |
Schwappt das von der Gesellschaft ins Theater? Es wird ja generell kaum | |
noch produktiv gestritten, und statt Argumenten prallen Fronten | |
aufeinander. Mit Corona hat sich das verschärft. Im Krieg wird es nicht | |
besser. | |
In meiner Familie hat man gestritten und trotzdem war immer klar, dass man | |
sich gern hat. Diese Gewissheit ist weg. Auch unter Leuten, die das mal | |
miteinander konnten, muss man sich permanent rückversichern. Dabei gibt es | |
gerade in dieser in der Coronazeit noch krasser gewordenen Vereinzelung | |
auch die Sehnsucht, sich zu bekennen. Und das geht ja nur, wenn man | |
streitbar ist. Wenn ich mich zeige, mit all meinen Fehlern, riskiere ich, | |
dass 40 oder sogar 70 Prozent der Leute mich scheiße finden. Das ist | |
irgendwie schlimm geworden. | |
Man hat erfahren, wie schnell ein Theater geschlossen werden kann und ein | |
Herzensberuf marginal wird. Und jetzt bleibt auch noch das Publikum weg. | |
Hat die neue Angst auch mit der Unsicherheit zu tun, die sich aller am | |
Theater Arbeitenden bemächtigt hat? | |
Ja, vielleicht hat das auch mit der Angst zu tun, nicht relevant zu sein, | |
und dass man schneller weg ist, als man denkt. Die Existenzangst ist groß. | |
Und man muss sich sicher fühlen, um freiwillig in die Unsicherheit zu | |
gehen. | |
Ich habe in dieser Spielzeit auch extrem viele Arbeiten mit eindeutiger | |
Message gesehen, am liebsten noch mal für die ganz Dummen | |
hinterhergeschoben … | |
Ich bin derzeit nicht fest in einem Ensemble, deshalb höre ich es nur von | |
anderen. Aber es muss einen immensen Druck geben, auch vonseiten des | |
Publikums, dass die Theater Gänsefüßchen setzen oder Triggerwarnungen | |
lancieren müssen. Dass sie denken, sie kommen in Gefahr, wenn sie | |
missverstanden werden. Und das ist ja wirklich etwas Neues. | |
Vollkommen unsympathische, politisch zweifelhafte Figuren sieht man nicht | |
mehr oft auf den Bühnen; und wenn, dann als comichafte Überzeichnung oder | |
mit distanzierendem Augenzwinkern. Kann man so etwas überhaupt noch | |
spielen? | |
Ich sehe sie gerade auch kaum, finde aber, man sollte. In Bremen probe ich | |
gerade zum ersten Mal in meinem Leben einige eindeutig moralisch | |
verwerfliche Figuren: Nazis! Da haben wir auch wilde Diskussionen, ob man | |
das darf und wie man Macht spielen oder zeigen kann. Das ist ja auch etwas, | |
worüber wir gerade nicht sprechen: Der Mensch will sich ja bemächtigen und | |
braucht das Gefühl – positiv formuliert – der Selbstwirksamkeit. Wer sich | |
ohnmächtig fühlt, dem geht es schlecht. | |
Sie spielen vier Männer in „Leben und Schicksal“ nach einem Roman von | |
Wassili Grossman. Armin Petras führt Regie. | |
Ja, eigentlich SS-Generäle und Gulag-Offiziere, aber ich spiele sie nicht | |
explizit als Männer. Ich bin ja eine Frau. Indem ich es nicht klar | |
entscheide, habe ich sogar noch viel mehr Möglichkeiten, Macht zu | |
untersuchen. | |
Welche Möglichkeiten sind das? | |
Na, die männlichen Machtgesten und -spiele kenne ich aus der | |
Beobachterperspektive, aber wir Frauen haben auch ein großes Spektrum zur | |
Verfügung. Mischt man das, behaupte ich, hat man einiges zu spielen. Ich | |
kann mit der Peitsche, mit dem Revolver, aber auch mit Verführung | |
arbeiten: mich zu nah an einen Mann setzen, ihn berühren. Wenn er keine | |
Möglichkeit hat, dem zu entfliehen, ist das für einen Mann genauso | |
demütigend wie für eine Frau, die das von einem Mann erfährt. Wenn ich als | |
Chefin einem Zwei-Meter-Hünen bei einem wichtigen Gespräch in die Wange | |
kneife, erzählt das sofort etwas über Macht. Aber es funktioniert nur | |
gemeinsam. Im Theater sagt man: den König spielen die anderen. Das heißt: | |
Ich kann Königin spielen, wie ich will. Wenn alle mich ignorieren, wird man | |
keine Königin sehen. Wenn sich aber alle verneigen, wenn ich nur den Finger | |
hebe, dann fühle ich mich am Ende der Probe ziemlich mächtig. Und so geht | |
es vermutlich auch Intendant*innen und anderen Machthabern … | |
Das ist Putin mit seinem langen Tisch, an den sich alle an die ihnen | |
zugewiesenen Plätze setzen … | |
Absolut, und wir spielen alle mit. Natürlich fühlen die sich dann wie die | |
Könige der Welt. | |
Macht kickt, macht Spaß und ist gefährlich. | |
Es gibt einen eklatanten Widerspruch zwischen dem, was auf den Bühnen zu | |
sehen ist, denen der Deutsche Bühnenverein (DBV) gerade wieder zugerufen | |
hat, sie seien „Räume für den Diskurs darüber, wie unsere Gesellschaft | |
frei, offen und in Vielfalt zusammen leben kann“ – und den | |
Missbrauchsskandalen hinter den Kulissen. Seit 2018 arbeitet der DBV | |
deshalb an einem „Wertebasierten Verhaltenskodex“. Hat der Ihrer Ansicht | |
nach schon etwas bewegt? | |
Wir haben alle noch viel zu lernen. Die Welt war lange genug heteronormativ | |
und insgesamt zu homogen und das ist stinkelangweilig. Es ist Zeit, dass | |
sich das ändert. Der Katalog ist ein Anfang, für mich muss sich das aber im | |
Praktischen vollziehen. Ich glaube, dass wir spüren, wann Bullshit passiert | |
und wann nicht. Schauspieler sind ja Energiezauberer. Mit Energien gehen | |
wir um. Die Balance ist nur dann gestört, wenn wir das Gefühl haben, wir | |
dürfen dem, was wir als störend erkennen, nicht nachgehen. Helfen können da | |
nur angstfreie Räume, in denen alle sich trauen, ihren Mund aufzumachen. | |
Sind Teams und flache Hierarchien die Lösung? | |
Ich habe gerade mit der Regisseurin Jorinde Dröse die DröseEichel Company & | |
Friends gegründet. Und das ist die Hoffnung: dass man miteinander arbeitet, | |
ohne Hierarchien. Obwohl mich in dem Moment, in dem ich auf der Bühne bin, | |
jemand sehen muss – wo ich stehe, ob ich gerade schummle. Das ist o. k. und | |
nur blöd, wenn eine Wurst da unten im Dunklen sitzt. | |
Unsere Idee ist, mindestens einmal im Jahr das Theater zu machen, das uns | |
auf der Seele brennt, egal ob jemand sagt: „Das ist aber gerade nicht das | |
Thema“. „Reduce to the max“, hat Armin Petras immer gesagt: Mit Leuten, m… | |
denen man gerne probt, denkt, streitet, gemeinsam das zu machen, was man | |
liebt. Damit das Netzwerk der tollen, witzigen, intelligenten Menschen | |
wächst und irgendwann die größere Macht wird (lacht). Vielleicht ist das | |
auch utopisch. Aber darüber nachzudenken und zu diskutieren macht gerade | |
sehr viel Spaß. | |
5 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id… | |
## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Theater | |
Schauspielerinnen | |
Arbeitsbedingungen | |
Konflikt | |
Junges Theater | |
Theater | |
Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Junges Theater beim „Radikal jung“: Von Disney unterwandert | |
Beim Münchner Theaterfestival „Radikal jung“ ging es um politische | |
Zeichensetzung. Dabei spielten Identitätsdiskurse und Folklore eine große | |
Rolle. | |
Konflikte im Theater: Spielst du noch? Lehrst du schon? | |
Theater kann eine Zumutung sein. Oft aber mangelt es bei Themen der Gender- | |
und Identitätspolitik an Reibung. Eine Suche nach offenen Denkräumen. | |
Theaterkonferenz „Burning Issues“: Moderierte Revolution | |
Die Konferenz „Burning Issues“ begleitet das Theatertreffen in Berlin. | |
Vorgestellt wurden Alternativen zu veralteten Machtstrukturen an Theatern. |