| # taz.de -- Theaterstück „Prima Facie“: Die Verstörung der Opfer | |
| > Das Drama „Prima Facie“ fragt, wie Vergewaltigung wirksam verfolgt werden | |
| > kann. 15 deutschsprachige Theater haben das Stück im Spielplan. | |
| Bild: Szene aus „Prima Facie“ am Schauspiel Hannover: Anwältin Tessa schaf… | |
| So sehen Siegerinnen aus. Tessa Ensler hat es aus kleinbürgerlichem Milieu | |
| an die Jura-Elite-Uni geschafft, nun ist sie Topanwältin einer Kanzlei für | |
| Topverdiener. Ihr Einsatzgebiet: Der Vergewaltigung angeklagte Männer vor | |
| dem Gefängnis zu bewahren, die Gefahr weiterer sexueller Gewalttaten also | |
| für die Gesellschaft zu erhöhen. | |
| Von dieser Tessa Ensler erzählt Suzie Millers Monodrama „Prima Facie“, das | |
| nach der Uraufführung 2019 in Sydney sehr erfolgreich am Londoner Westend | |
| sowie New Yorker Broadway lief und in dieser Spielzeit von 15 | |
| deutschsprachigen Bühnen gezeigt wird – unter anderem am Schauspiel | |
| Hannover. | |
| Die mit der luxuriösen Anmutung von dunklen Marmorböden und edelholzigen | |
| Wänden gestaltete Bühne im Ballhof des Schauspiels Hannover nutzt die | |
| Juristin wie den Gerichtssaal, agiert in direkter Ansprache der Anwesenden, | |
| das Publikum ist gleichzeitig Zuschauer, Richter und Geschworenenjury. | |
| Stolzgerade schreitet Tessa dabei im Schicki-Businesskostüm herum. Gern | |
| verzieht sie kokett den Mund und nennt es wohlwollendes Lächeln. | |
| Prima facie bedeutet im Fachjargon „dem ersten Anschein nach“ – und genau | |
| den will Tessa erschüttern. In selbstsicherer Klarheit und sprachlicher | |
| Präzision erklärt sie, wie mit juristischen, rhetorischen und | |
| psychologischen Tricks die Anklägerinnen zu verunsichern sind, um Zweifel | |
| an ihren Aussagen zu wecken. | |
| Ob jemand wirklich schuldig ist oder nicht, interessiert die Anwältin | |
| nicht. Für sie sind Gerichtsverhandlungen wie Sportveranstaltungen, die es | |
| zu gewinnen gilt. Nie versucht sie dabei den schwierigen Beweis anzutreten, | |
| dass die fast immer weiblichen Opfer der sexuellen Intimität zugestimmt | |
| haben, vielmehr inszeniert sie ihre Mandanten so, dass diese nicht wussten, | |
| nicht wissen konnten, dass kein Einvernehmen vorlag. Sie also unschuldig | |
| sind. | |
| Dabei ignoriert die Anwältin, dass viele Missbrauchsopfer derart unter | |
| Schock stehen, dass sie sich nicht wehren oder lediglich verbal zu | |
| beschwichtigen versuchen, also keine Wunden vorweisen können und sich nach | |
| der Tat zudem schamvoll gereinigt haben. | |
| Offensichtliche Beweise gibt es also meistens genauso wenig wie Zeugen. Was | |
| Tessa als Indiz der Zustimmung wertet. Gnadenlos nutzt sie die Verstörung | |
| der Opfer aus, wenn sie im Zeugenstand detailliert die Vergewaltigung | |
| rekapitulieren müssen. Daraus dreht die Anwältin ihnen dann den | |
| Unglaubwürdigkeitsstrick. Sie ist ein zynisches Biest, dessen Erfolge | |
| asoziale Folgen haben. | |
| Andererseits gelingt es ihr so wohl auch, die eine oder andere | |
| verleumderische Anklage zu entlarven. Von jedweder Verantwortung zieht sie | |
| sich allerdings zurück. Sie mache ja – ehrgeizbesessen – nur ihren Job | |
| besonders gut im Rollenspiel Anklage vs. Verteidigung, die Urteile fälle ja | |
| die Jury. | |
| Und leider hat sie ja Recht: Gerichte sind nicht zum Schutz der weiblichen | |
| Opfer da, auch nicht an Wahrheit oder Gerechtigkeit interessiert, sondern | |
| am Bedienen von Gesetzestexten. Aber Tessa hat auch Recht, wenn sie sagt, | |
| die Unschuldsvermutung sei „das Fundament einer zivilisierten | |
| Gesellschaft“. In diesem facettenreichen Spannungsfeld bewegt sich das | |
| Stück. | |
| Darstellerisch ist der Abend ein Fest für Caroline Junghanns. Wie sie | |
| allein Situationen und Figuren aus Tessas Lebensgeschichte an- und das | |
| Innenleben der Figur ausspielt, eröffnet dem Publikum einen | |
| Vorstellungsraum zum Verständnis ihres Verhaltens und macht aus dem | |
| Demonstrationsobjekt der dramatischen Konstruktion ein lebendiges, | |
| vielschichtiges und verletzliches Wesen. | |
| Was natürlich für die Regiearbeit von Seline Seidler spricht. Stigmatisiert | |
| als unterprivilegierte Stipendiatin kämpft Tessa eindrucksvoll verbissen um | |
| Anerkennung im Jurastudium, das von reichen Schnöseln beherrscht wird. Wenn | |
| sie das Elternhaus besucht, kollabiert ihre Arroganz, mit vorsichtigem | |
| Nachdruck buhlt sie vergeblich um menschliche Nähe, persönliche Zuneigung | |
| und Wahrnehmung ihres beruflichen Erfolgs. | |
| Und geradezu backfischig tänzelt die Anwältin auf dem Groove eines | |
| Nachtclubs, wenn sie Kollege Julian anflirtet, ihre erotische Attraktivität | |
| genießt und sich auf alles einlässt, auch auf Sex. Wobei Junghanns auch die | |
| Verwirrung zeigt, großspurig cool und trotzdem verliebt zu sein. Mit | |
| tonlosem Entsetzen macht die Darstellerin schließlich beklemmend deutlich, | |
| wie sie der smarte Julian an einem anderen Abend nach reichlich | |
| Alkoholgenuss nicht wie gewünscht in Ruhe lässt, sondern seinen | |
| Penetrationsdrang gewalttätig durchsetzt. | |
| Ein wirkungsvoll ausgedachter Dreh der Handlung: Täterin wird Opfer. | |
| Unsicher ringt Tessa nach Worten und ist plötzlich eine waidwunde, aller | |
| Sympathien werte Figur voller Angst, sich selbst, Job und Reputation zu | |
| verlieren. Jedenfalls zeigt sie den Vergewaltiger an – die | |
| Profiverteidigerin ist nun Anklägerin, von Junghanns brillant gespielt als | |
| Kreuzverhör mit sich selbst. Tessa erlebt eine beschämende, | |
| retraumatisierende Befragung und – so funktioniert das Empörung schürende | |
| Lehrstück – den Freispruch des Vergewaltigers. | |
| Ihr Plädoyer aber nutzt sie zur Abrechnung mit patriarchaler Macht. „Die | |
| Wahrheit ist, [1][jede dritte Frau erfährt sexuelle Gewalt.] Sehen Sie nach | |
| links, sehen sie nach rechts, eine von uns…“, sagt Tessa. Was das Publikum | |
| in Hannover unruhig werden lässt. | |
| Weiter heißt es: „Die weibliche Erfahrung sexualisierter Gewalt passt in | |
| kein von Männern geprägtes System.“ Statt die Voraussetzungen der Gesetze | |
| und Verfahren zu hinterfragen, „hinterfragen wir die Opfer“, kritisiert | |
| Tessa. [2][Grundlegend müsse sich da was ändern.] | |
| Das hat jetzt ein bisschen Tribunal-Charakter, aber die Fakten sind ja | |
| leider so: Schätzungen zufolge zeigen nur 5 bis 15 Prozent der Frauen, die | |
| mit sexueller Gewalt konfrontiert wurden, diese auch an – viele fürchten | |
| die Folgen nicht ertragen zu können, wie sie im Stück beschrieben sind. | |
| Zudem ist bekannt, dass nur sehr wenige Frauen, die den Gang zur Polizei | |
| wagen, auch [3][eine Verurteilung des Angeklagten erleben.] Einstellungen | |
| der Prozesse oder Freisprüche [4][sind die Regel.] Allerdings bietet „Prima | |
| Facie“ auch keine Ideen, wie das Prozedere menschlicher zu gestalten ist, | |
| ohne das Im-Zweifel-für-den-Angeklagten-Prinzip zu kippen. Trotzdem: | |
| wichtiges Thema, pointiertes Stück, zupackend inszeniert und eindringlich | |
| gespielt. Toller Abend! | |
| 23 Jan 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
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