| # taz.de -- Theaterstück „Der Vorfall“: Wenn Rape Culture gewinnt | |
| > Nach 20 Jahren trifft Sandra den Täter wieder: Das Theaterstück „Der | |
| > Vorfall“ beschäftigt sich in Bremerhaven mit den Folgen einer | |
| > Vergewaltigung. | |
| Bild: Soll sie zuschlagen oder nicht? Vergewaltiger Larry schlägt Sandras Ehem… | |
| Das Thema ist eine Vergewaltigung – und aufbegehrt wird gegen die | |
| gesellschaftliche Verniedlichung als „Der Vorfall“, so der Titel dieses | |
| Stücks im Stadttheater Bremerhaven. Denn unter den Folgen der | |
| Traumatisierung leiden Menschen ein Leben lang und entwickeln sich anders, | |
| als es ohne diesen Kontrollverlust über den eigenen Körper und die eigene | |
| Geschichte möglich gewesen wäre. | |
| Sich dagegen zu empören und die Triebabfuhr als Ausdruck struktureller | |
| männlicher Gewalt anzuklagen, gelingt derzeit etlichen Dramen auf deutschen | |
| Bühnen – etwa Suzie Millers [1][„Prima facie“]. | |
| Die irische Autorin Deidre Kinahan will in „Der Vorfall“ hingegen in | |
| schmerzhafter Ausführlichkeit den schier erdrückenden Prozess dessen | |
| vorführen, was sie im Stück Posttraumatische Belastungsstörung nennt. Als | |
| Form wählt sie ein psychologisch klar strukturiertes Well-made-Play, so | |
| dass Christina Gegenbauer mit ihrer Inszenierung am Stadttheater | |
| Bremerhaven auf den Realismus eines pointierten Konversationswettstreits | |
| setzt, allerdings mit kleinen surrealen Verstörungen – wie Zeitlupen, | |
| puppenhaften Bewegungen oder eingefrorener Szene. | |
| Sandra wird zurück in ihre Vergangenheit geholt. Sie reist ins heimatliche | |
| Dorf nach Irland, um das Haus der verstorbenen Mutter zu verkaufen. Mehr | |
| wie eine Halle denn ein Wohnzimmer wirkt der höhlenartig finster | |
| beleuchtete Bühnenraum, ausgestattet mit Cordmöbelschick der 1980er Jahre, | |
| einer Oma-Stehlampe, Marmorkamin und nachtdunklem Urwaldszenario an den | |
| Wänden (Ausstattung: Frank Albert). | |
| Von der inhaltlichen Relevanz her ist es natürlich eine gute Idee, das | |
| Stück im Großen Haus zu zeigen, atmosphärisch allerdings schwierig, in der | |
| Größe des Saals die Intimität eines Kammerspiels herzustellen. Vielleicht | |
| deswegen agiert das Ensemble fast durchweg überdeutlich. | |
| Um die Fallhöhe zu definieren, vermittelt die erste Szene privates Glück. | |
| Hinterm Sofa ist Sexgestöhne zu hören, dann ein sehr langgezogener | |
| Orgasmusschrei von Sandra. Es läuft also super zwischen ihr und Ray. Aber | |
| plötzlich verspannt sie sich. „Weinst du“, ist die irritierte Frage des | |
| kuschelnetten und super verständigen Lebenspartners. Retrofuturistisch | |
| designte Projektion von Sandras schmerzverzerrtem Gesicht flimmern über die | |
| Bühne und Maklerin Linda erscheint nebst Gatten Larry. | |
| Sandra ist entsetzt – und Marsha Zimmermann spielt sie fortan mit Verve in | |
| seelischem Daueraufruhr. Brüllt: „Scheiße“. Denn sie erkennt in Larry, den | |
| Marc Vinzing klischeesatt als gegelten Großkotzmacker der unsympathischen | |
| Lächerlichkeit preisgibt, denjenigen wieder, der sie in | |
| Student:innentagen bei einer Party vergewaltigt hat. Vor lauter | |
| Scham-, Schuld- und Ohnmachtsgefühlen sowie mit alkoholisiert-unscharfer | |
| Erinnerung versuchte sie einst nicht den Weg des Rechts mit einer Anzeige | |
| zu gehen, sondern verließ ihre Heimat und ging nach London. Wie jetzt, 20 | |
| Jahre später und um eine [2][#MeToo-Bewegung] mutiger, damit umgehen? | |
| Isoliert im Spotlight steht Sandra mit Panikattacken auf der Bühne. | |
| Durchlebt Ekel vor ihrem Körper, zittrige Angstphasen, aggressive und | |
| depressive Schübe. Das Lächeln kippt zunehmend in höhnisches Lachen | |
| angesichts der Aussichtslosigkeit, sich richtig zu verhalten. Den | |
| Vergewaltiger stellen – oder fliehen? Den Schmerz öffentlich machen – oder | |
| alles weiter verdrängen? | |
| Sie probiert es mit der Anwältinnenrolle in eigener Sache, um Larry wie bei | |
| einer Gerichtsverhandlung dazu zu bringen, die erbärmlich eitle Show des | |
| Leugnens aufzugeben, sein männliches Anspruchsdenken darzulegen und die Tat | |
| zu gestehen. Was gelingt – mit der Einschränkung, dass er behauptet, es | |
| habe Einvernehmlichkeit geherrscht. | |
| ## Sandra verweigert die Täter-Opfer-Umkehr | |
| Die von Julia Lindhorst-Apfelthaler mit energischer Typenkomik als eiskalte | |
| Managerin ihrer Lebensplanung charakterisierte Linda posaunt daraufhin | |
| ihren Hass auf Larry heraus und stellt klar, dass die Vorwürfe ihre Familie | |
| und Kinder „in die Scheiße reiten“ würden. Sandra verweigert die | |
| Täter-Opfer-Umkehr und betont, nicht sie, sondern Larry habe seine Familie | |
| zerstört. Der guckt dabei wie ein Kleinkind, das bei etwas Verbotenem | |
| entdeckt wurde. Sandra würgt ihn mit seinem Schlips, presst ihn zu Boden, | |
| setzt den Fuß auf seinen Hals – so eine Rape-and-Revenge-Fantasie. | |
| Ray (Henning Bäcker) reagiert ebenso fassungslos auf Sandras Offenlegung, | |
| empfindet er es doch als entfremdenden Vertrauensbruch, dass Sandra ihm nie | |
| von der Vergewaltigung erzählt hat. Auch diese Ehe könnte also zerbrechen. | |
| Es wird zum fortgesetzten Verschweigen geraten, damit niemandem das Leben | |
| vermiest werde. Zudem wissen ja alle, dass Anklagen gerade nach so vielen | |
| Jahren selten strafrechtliche Folgen haben, da es keine Zeugen gibt, „keine | |
| Beweise“ vorliegen, wie Ray konstatiert. | |
| ## Entscheidung für das Schweigen | |
| Was Linda und Transfrau Dairne, seit Schultagen mit Sandra befreundet, | |
| herausfordert, ihre ebenfalls bisher geheim gehaltenen | |
| Missbrauchserfahrungen darzustellen. Und zwar geradezu fatalistisch als | |
| etwas, das als Prüfung hinzunehmen sei, um nicht unterzugehen in den | |
| patriarchalen Strukturen. Stichwort [3][Rape Culture.] | |
| Genau das wird im Finale vorgeführt, wohl um Widersprüche zu provozieren. | |
| Wieder ist die Sexszene des Beginns zu erleben und den Zuschauenden wird | |
| klar, dass all das Gesehene nur Sandras Gedankenspiel war, was passieren | |
| würde, wenn sie das Verbrechen ans Tageslicht bringt. Aus Verzweiflung und | |
| vor allem um ihren Mann nicht zu verlieren, schweigt sie weiter und findet | |
| zu fragwürdig richtigem Leben im falschen, also auf Kosten der Lüge zur | |
| Eheidylle mit orgastischem Sex. | |
| Es dauert viele Sekunden, bis die Standing Ovations des leider sehr, sehr | |
| spärlich erschienen Premierenpublikums einsetzen – für dieses trefflich | |
| zugespitzte Selbstverständigungsstück zum Selbstermächtigungsdiskurs. | |
| 5 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
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