Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Reden über Vergewaltigung: Über die Angst hinaus
> Auf der Suche nach einer literarischen Sprache für sexuelle Übergriffe:
> Laura Leupis Debütroman „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“.
Bild: Laken brechen bei Leupi „wie große Bettwellen“ über das Ich herein
Ein Lexikon der Vergewaltigungen, das kein Lexikon ist. Laura Leupi gießt
die Erzählung einer Gewalterfahrung und die Ergebnisse einer ausgiebigen
Recherche zusammen in ein ungewöhnliches Buch, das eine Mischung aus
autofiktionalem Essay und feministischem Debattenbeitrag ist. Gleichzeitig
wägt es die Möglichkeiten der Literatur und des Schreibens über
sexualisierte Gewalt ab.
Leupi hat eine Reihe von Begriffen, die in diesem Zusammenhang für
gewöhnlich genannt werden, gesammelt und alphabetisch aufgelistet. Von A
wie Angst, die „uns zurück an den Herd“ verweist, bis [1][Z wie Zuhause,
„wo die meisten sexuellen Übergriffe geschehen“.] Es scheint, als müssten
diese Schlagwörter einmal genannt werden, bevor tatsächlich ein Gespräch
über sexualisierte Gewalt beginnen kann.
Das Alphabet zieht sich als Gerüst durch das gesamte Buch und bildet den
Rahmen für die [2][Erzählung einer Vergewaltigung], die die Erzähler*in
durch den Partner im eigenen Zuhause erlebt hat. Von schimmelnden Wänden
wird erzählt, von einem vorwurfsvoll starrenden Fußboden und einem
beißenden Bett. Das Zimmer erwacht zum Leben und erscheint als Ort der
Gefahr, etwa wenn die Laken „wie große Bettwellen“ über das Ich
hereinbrechen.
Man kann sich fragen, ob die spielerische Form des Alphabets dem Thema
angemessen ist. Aber schnell wird deutlich, dass es als Versuch zu
verstehen ist, Ordnung in einen komplexen Stoff zu bringen. Dadurch, dass
es die Erzählung der Vergewaltigung immer wieder unterbricht, bewirkt es
eine kurze Auszeit im Text.
## Persönliches Alphabet der Gewalt
Nicht bei jedem Wort ist der Zusammenhang gleich ersichtlich (was hat etwa
Brennnesseltee mit Vergewaltigungen zu tun?), das muss er aber auch gar
nicht: Die Erzähler*in betont, dass es sich um ihr persönliches Alphabet
handelt, das für jeden anders aussehen kann. Die Lesenden werden immer
wieder direkt angesprochen und damit zu einer Reaktion aufgefordert: „Wie
stellen Sie sich mich vor, jetzt, da Sie wissen, dass ich vergewaltigt
wurde?“
Das Buch ist auch eine bemerkenswerte Sammlung von Rechercheergebnissen.
Besonders eindrücklich sind die fünf Seiten, die mit einer Liste der
Femizide und versuchten Femizide gefüllt sind, die in der Schweiz seit
Beginn der Arbeit am Text stattgefunden haben.
Ein Problem in gängigen Wahrnehmungen und Darstellungen von
Vergewaltigungen sieht Leupi in einem „rape script“, das eine stereotype
Modellvorstellung für Vergewaltigungen vorsieht: Eine cis weibliche Person
wird mit Gewaltanwendung durch eine cis männliche Person vaginal
penetriert. Diese Vorstellung lässt nur eine mögliche Geschichte zu: Frauen
als „ewiges Opfer“, Männer „für immer Täter“.
Das macht Betroffene sexualisierter Gewalt unsichtbar, die sich nicht als
cis Frauen identifizieren, und sortiert sie in Schubladen ein, denen sie
sich nicht zugehörig fühlen: „Trotzdem weiß ich immer noch nicht, wie ich
diese Geschichte erzählen kann, ohne FRAU zu werden – was ich nicht bin –
ohne OPFER zu sein – was ich nicht sein will.“
## Vergewaltiger sind immer die anderen
Leupi kritisiert, dass in den Medien nur über die aufsehenerregendsten
Fälle berichtet wird, wie die Vergewaltigung einer jungen Frau durch eine
Gruppe von Männern in Südafrika. Ein schockierender Fall, von dem man sich
distanzieren kann: Vergewaltiger sind immer die Anderen. Dem, was am
häufigsten vorkommt, wird nicht annähernd so viel Platz in der
Berichterstattung eingeräumt, nämlich der Gewalt in Beziehungen und im
nahen Umfeld.
Daher erscheint es Leupi zwingend, darüber zu schreiben. „Die Angst
verweist uns zurück an den Herd und den MANN ans Gewehr.“ Es sind Sätze wie
dieser, in denen Leupi wirkungsmächtig die Folgen des vorherrschenden
Vergewaltigungsdiskurses beschreibt. Sie sind aber auch möglicherweise die
Stellen, die Lesende wie den Literaturkritiker Philipp Tingler provozieren:
In der Jurydiskussion beim Bachmannpreis, wo Leupi 2023 eine gekürzte
Version des Textes vortrug und mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet wurde, warf
er der Autor*in eine „tendenziell totalitäre“ Sprache vor.
Dabei macht Leupi keineswegs einen essenzialistischen Gegensatz von Männern
und Frauen als Antipoden auf, sondern kritisiert das patriarchale System,
das diese Kategorien erst hervorbringt und ihnen bestimmte Eigenschaften
zuschreibt: „Männliche Sexualität ist in einer sexistischen Gesellschaft
nicht ‚freier‘ als weibliche; die Hetero-Gewaltwelt übt auch auf cis Männ…
Zwänge aus.“
## Kritik am Strafsystem
Ebenso wird das Strafsystem an sich kritisiert: Laura Leupi fordert keine
juristische Verurteilung von Tätern. Insbesondere das Gefängnis wird nicht
als Lösung dargestellt, sondern als der Ort, der Gewalt erst hervorbringt.
So erzählt Leupi die Geschichte des Aktivisten Stephen Donaldson, der als
Erster in den USA öffentlich über Vergewaltigungen von Männern sprach,
nachdem er selbst mehrfach im Gefängnis vergewaltigt worden war.
Das Buch macht die bisherigen Schwachstellen des öffentlichen Gesprächs
über sexualisierte Gewalt sichtbar und tastet sich an eine geeignetere Form
dafür heran. Die autofiktionale Erzählung, die die Lesenden die
Gewalterfahrung miterleben und mitfühlen lässt, ist weder vollständig noch
linear, wie es typisch für Erzählungen traumatischer Erfahrungen ist.
Die lexikalische Darstellung des Alphabets, das nie ganz abgeschlossen
werden kann, bricht die Geschichte auf und regt zum Weiterdenken an.
11 May 2024
## LINKS
[1] /Haeusliche-Gewalt/!6002299
[2] /Theaterstueck-Der-Vorfall/!5994160
## AUTOREN
Emma Rotermund
## TAGS
wochentaz
Buch
Vergewaltigung
Schwerpunkt LGBTQIA
Ehe
Sprache
Feminismus
Sexualität
Männergewalt
häusliche Gewalt
Theater Bremerhaven
wochentaz
## ARTIKEL ZUM THEMA
Häusliche Gewalt: Erste Hilfe bei Männergewalt
Immer mehr Frauen in Deutschland sind von häuslicher Gewalt betroffen.
Miriam Peters tourt mit einem Lieferwagen übers Land, um Betroffenen zu
helfen.
Theaterstück „Der Vorfall“: Wenn Rape Culture gewinnt
Nach 20 Jahren trifft Sandra den Täter wieder: Das Theaterstück „Der
Vorfall“ beschäftigt sich in Bremerhaven mit den Folgen einer
Vergewaltigung.
Neuverfilmung von „Die Farbe Lila“: Zaghafte Emanzipation
Gewalt gegen Frauen in den Südstaaten: In „Die Farbe Lila“ wird der Stoff
von Regisseur Blitz Bazawule als Musical erneut auf die Leinwand gebracht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.