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# taz.de -- Häusliche Gewalt: Erste Hilfe bei Männergewalt
> Immer mehr Frauen in Deutschland sind von häuslicher Gewalt betroffen.
> Miriam Peters tourt mit einem Lieferwagen übers Land, um Betroffenen zu
> helfen.
Bild: Safe Space: Miriam Peters an ihrem zum Sprechzimmer umgebauten Lieferwagen
Nadia sitzt mit Miriam Peters im Laderaum eines Lieferwagens auf einem
Parkplatz vor einem Gemeindehaus irgendwo in Schleswig-Holstein. Der Ort
des Treffens darf aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Auch Nadia
heißt eigentlich anders. Die beiden sitzen auf einer Bank im
Miniaturwohnzimmer des Lieferwagens. Es ist eng, eine gewisse Nähe lässt
sich nicht vermeiden. Neben zwei Bänken ist ein kleiner Tisch eingebaut,
ein Gasofen spendet Wärme. Draußen ist es an diesem Tag Mitte Februar
eiskalt.
Vor dem Gemeindehaus parken nur wenige Autos, ein paar Windräder stehen in
der flachen, grünen Landschaft. Nadia wirkt nervös, während sie spricht.
„Wir haben uns jetzt entschlossen, in ein Frauenhaus zu gehen“, sagt sie.
Mit ihren beiden Söhnen will sie vor ihrem gewalttätigen Partner flüchten.
Die Sozialarbeiterin Miriam Peters ist [1][Gründerin der „Landgrazien“].
Seit März 2021 bietet der Verein Frauen, die von Gewalt betroffen sind,
mobile Beratung im Kreis Herzogtum Lauenburg in Schleswig-Holstein an. Mit
ihrem Beratungsmobil treffen sie ihre Klientinnen dort, wo es für sie am
einfachsten ist. Das kann auf dem Weg in den Kindergarten, auf dem
Supermarktparkplatz oder an einer Bushaltestelle sein. So sinkt die
Wahrscheinlichkeit, dass der gewalttätige Partner etwas von dem Treffen
mitbekommt.
Besonders auf dem Land ist dies für Frauen wichtig. Denn hier kennt jede:r
jede:n. „Wenn Frauen eine klassische Beratungsstelle aufsuchen, dann kann
es schnell passieren, dass jemand aus der Nachbarschaft das mitbekommt“,
sagt Peters. Die Beratung ist in dieser Form in Deutschland einzigartig.
Jeden Tag werden die Landgrazien von Frauen kontaktiert. Im besten Fall
können Peters und ihr Team sie aus einer gewalttätigen Beziehung retten.
## Wenn es eskaliert, schicken sie ein Taxi
„Was soll ich den Kindern sagen?“, „Was passiert mit den Haustieren?“, …
komme ich ins Frauenhaus?“, all das sind Fragen, die Nadia beschäftigen.
Was ihr zu Hause widerfahren ist, spielt bei dem Gespräch keine Rolle.
Miriam Peters fragt auch nicht nach. Sie ist hier, um zuzuhören. Manchmal
weiß sie nicht einmal, wie ihre Klientinnen wirklich heißen, wo sie wohnen.
Denn es ist ihnen überlassen, wie viel sie teilen wollen. Nadia kennt sie
erst seit sechs Wochen, sie hat die Landgrazien über Instagram kontaktiert.
„Ich würde den Kindern erst mal gar nichts sagen, es kann immer sein, dass
sie sich verplappern“, rät die 33-Jährige der Mutter. Am liebsten würde sie
in ein Frauenhaus in Brandenburg gehen, da ihre Familie dort wohnt, sagt
Nadia. Peters verspricht ihr, dass ihr Team das versuchen wird.
„Wenn es zu Hause eskaliert, dann können wir dich mit dem Taxi abholen und
erst mal in eine Ferienwohnung bringen“, sagt sie. Nadia nickt, die Worte
scheinen sie zu beruhigen. „Wenn ich die Kleine morgen im Kindergarten
abgesetzt habe, können wir noch mal telefonieren“, sagt die Mutter, bevor
sie sich von Peters mit einer Umarmung verabschiedet.
Dass die Betroffenen nur zu ganz bestimmten Zeiten reden können, kommt
häufig vor. Die meisten Frauen, die sich bei Peters melden, haben einen
Partner, der sie rund um die Uhr überwacht, der jeden einzelnen Schritt
ihrer Partnerin kontrolliert. Das kann über ein GPS-Signal im Auto oder per
Suchfunktion mit dem Smartphone sein. Die Frauen müssen deshalb extrem
vorsichtig sein, wenn sie sich Hilfe holen. Denn es besteht immer die
Gefahr, dass die Gewalt eskaliert.
## Geheime Fluchtpläne
„Der gefährlichste Moment in einer Beziehung ist die Trennung“, sagt Miriam
Peters später bei einem Gespräch in ihrem Büro, einem kleinen, schlicht
gehaltenen Raum im Erdgeschoss eines Backsteinhauses. Die junge Frau mit
Nasenpiercing und kurzem Pony sitzt gerade an ihrem Schreibtisch. Wenn eine
Frau sich dazu entschließt, ins Frauenhaus zu gehen, muss das Team
wohlüberlegt vorgehen, erzählt sie. Es ist eine geheime Flucht, die man
plant.
Wichtige Unterlagen wie Geburtsurkunden müssen vorher versteckt und
mitgenommen, ein Frauenhausplatz muss organisiert werden. Manchmal muss die
Betroffene die Polizei darüber informieren, dass sie sich eigenständig
entschieden hat, zu gehen. Denn es kommt immer wieder vor, dass ihre
Partner eine Vermisstenanzeige machen. Ein Sperrvermerk beim Sozialamt
verhindert, dass die Behörden die neue Adresse weitergeben.
All das sind Dinge, die Frauen beachten müssen. Dinge, von denen die
meisten erst bei der Beratung erfahren. Ein persönliches Gespräch sei dabei
immer besser als ein Anruf: „Wenn mir eine Frau gegenübersitzt, kann sie
sehr viel schneller Vertrauen zu mir aufbauen“, sagt die Sozialarbeiterin.
Häusliche Gewalt nimmt in Deutschland stetig zu. Jede Stunde werden mehr
als 14 Frauen in Deutschland Opfer von Partnerschaftsgewalt. [2][Das
Bundeskriminalamt hat für das Jahr 2022] 240.547 Fälle von häuslicher
Gewalt ermittelt, 8,5 Prozent mehr als im Vorjahr. 13 Prozent Anstieg waren
es in den letzten fünf Jahren. Die Opfer sind zu 71 Prozent weiblich.
## Die Zahlen steigen rasant
Zu der Statistik zählen alle Formen körperlicher, sexueller oder
psychischer Gewalt. In 65,6 Prozent der Fälle geschah die Gewalt innerhalb
einer Partnerschaft. Die Hälfte der Opfer lebte mit ihrem Partner in einem
gemeinsamen Haushalt. Die meisten sind 30 bis 40 Jahre alt.
Warum die Zahlen im Jahr 2022 weiter gestiegen sind, ist nicht ganz klar.
Während der Coronazeit machte man die Kontaktbeschränkungen für den Anstieg
verantwortlich. Dass mehr Frauen häusliche Gewalt zur Anzeige bringen, kann
sich auch auf die Statistik auswirken.
Trotzdem gehen Expert:innen von einer sehr hohen Dunkelziffer aus. „Wir
haben seit 20 Jahren keine Zahlen, die das Dunkelfeld zu Gewalt gegen
Frauen beleuchten“, sagt Rechtsanwältin Asha Hedayati, die im Familienrecht
tätig ist und kürzlich ein Buch über häusliche Gewalt geschrieben hat.
Darin weist sie auch darauf hin, dass die Statistik verfälscht sei, da in
vielen Fällen Männer eine Gegenanzeige erstatten, wenn ihre Partnerin einen
Fall angezeigt hat, um so ihre Verurteilung zu erschweren.
Auch Miriam Peters dachte, dass sich die Lage mit dem Ende der
Coronapandemie etwas entspannen würde. Doch das war nicht der Fall. Die
Nachfrage hat sich bei den Landgrazien in den vergangenen Jahren kaum
verändert, sie werden eher von mehr Frauen kontaktiert, auch die
Gewalttaten seien extremer geworden.
## Therapien für gewalttätige Männer
Die Sozialarbeiterin wirkt nicht resigniert, wenn sie das erzählt. Für sie
ist es eher Ansporn weiterzumachen, so vielen zu helfen, wie möglich. „Ich
glaube, viele bekommen die Folgen von Corona erst jetzt zu spüren“, sagt
sie. Angehäufte Schulden, steigende Preise, das Gefühl, permanent eine
Krise zu durchleben: All das seien Risikofaktoren, die häusliche Gewalt
begünstigen.
Anwältin Hedayati sieht fehlende Präventionsmaßnahmen als Problem: „Mich
überrascht es wenig, dass die Zahlen weitersteigen, denn es wird nichts
unternommen, um die Gewalt zu verhindern.„Zwar plant die Bundesregierung
eine Gesamtstrategie und eine zentrale Koordinierungsstelle für Maßnahmen
gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, aber noch immer fehlt es [3][in
Deutschland an ausreichend Schutzeinrichtungen] und einer Reform der
juristischen Strukturen, welche die Opfer von Gewalt in den Mittelpunkt
stellen.
Laut Hedayati könnte man etwa Richter:innen gezielt fortbilden, um sie
für das Thema häusliche Gewalt zu sensibilisieren. Auch müsse man sich mehr
auf die Täterarbeit fokussieren, also abgesehen von Strafmaßnahmen gezielt
Kurse und Therapien für gewalttätige Männer fördern.
Beratungsstellen ausreichend finanziell zu unterstützen, ist eine weitere
Maßnahme gegen häusliche Gewalt. Die Landgrazien sind nur über
Stiftungsgelder und Spenden finanziert. Neben Peters sind eine
Koordinationskraft, eine Werkstudentin, eine Minijobberin und eine
Verwaltungsmitarbeiterin angestellt. Die 32-Jährige hat eine
30-Stunden-Stelle, arbeite aber eigentlich um die 50 bis 60 Stunden pro
Woche, sagt sie. Neben Beratungen kümmert sie sich um die Finanzierung,
pflegt den sozialen Medienkanal, besucht und organisiert Veranstaltungen.
## Die Vorteile: Man kennt sie
Peters ist in Laubenz, einem Dorf in der Nähe ihrer jetzigen
Beratungsstelle, aufgewachsen. Sie hat Internationales Management und
Sprachen in Amsterdam studiert, danach lebte sie jahrelang in Hamburg,
arbeitete dort bei einem Onlinehandel. Doch sie merkte schnell, dass der
Büroalltag nichts für sie ist. Sie lernte ihren Partner kennen, zog mit ihm
zurück aufs Land und bekam zwei Kinder. Ihr Interesse für soziale Arbeit
entstand in ihrer Elternzeit. „Mir war damals extrem langweilig, deshalb
habe ich ein Fernstudium in sozialer Arbeit angefangen“, sagt sie lachend.
Bei einem Praktikum im Frauenhaus in Lübeck kam sie zum ersten Mal näher
mit dem Thema häusliche Gewalt gegen Frauen in Berührung. Dort fiel ihr
auf, mit wie vielen Hürden Frauen auf dem Land zu kämpfen hatten, um Hilfe
zu bekommen. Sie startete die Landgrazien erst als ehrenamtliches Projekt
in ihrer Gemeinde und merkte schnell, dass es eine unglaubliche Nachfrage
nach alternativen Beratungsangeboten gab.
Neben den mobilen Beratungen bietet das Team auch Telefongespräche an,
klärt in den sozialen Medien über häusliche Gewalt auf. Dass sie aus der
Gegend kommt, spielt ihr in die Hände: „Dadurch, dass mich die Leute hier
kennen, ist es einfacher, Unterstützung für unseren Verein zu bekommen.“
Peters wirkt wie eine Frau, die die Dinge einfach anpackt, die so schnell
wie möglich Lösungen sucht. Die nicht Nein sagen kann, wenn jemand nach
Hilfe fragt. Nach dem Treffen mit Nadia steht bereits der nächste Termin
an. Über die Landstraße geht es in ein kleines Dorf mit mehreren
Einfamilienhäusern in Backsteinoptik.
## Kontrolle, Isolation, Terror
Dort trifft Peters ihre Klientin auf dem Spielplatz. Die beiden kennen sich
schon seit einigen Monaten. Die Erzieherin ist heute nicht in der Kita, da
ihre Tochter krank geworden ist. Die 5-Jährige ist gerade am Schaukeln, das
kleine Mädchen wirkt sehr zurückhaltend, als die Mutter Miriam mit einer
herzlichen Umarmung empfängt. „Lass uns vielleicht da hinten reden“, sagt
sie. Sie wendet sich an ihre Tochter: „Schatz, ich gehe mal ganz kurz
darüber, um mit meiner Freundin zu reden, okay?“
„Hast du eine Zigarette?“, fragt Peters die junge Mutter. „Nur eine, aber
wir können sie teilen“, sagt sie. Peters nimmt die Zigarette entgegen und
die Mutter fängt an zu sprechen. Wie ein Wasserfall sprudelt der Frust aus
ihr heraus. „Er kontrolliert wirklich alles, was ich mache“, sagt sie.
Anders als Nadia hat sie sich bereits vor drei Jahren von ihrem Ex-Partner
getrennt.
Seither lässt er ihr keine Ruhe. Er ruft sie ständig an, nutzt das geteilte
Sorgerecht aus, um Kontrolle über sie auszuüben, indem er sich weigert,
bestimmte Dokumente rechtzeitig zu unterschreiben. Immer wieder
terrorisiert er ihre Freunde und Familie, um mit ihr in Kontakt zu kommen.
Und ganz kann sie ihm nicht entfliehen. Denn der Vater darf die Kinder
einmal pro Woche sehen. Bei den Treffen will sie immer mit dabei sein, da
sie Angst hat, die Kinder mit ihm alleine zu lassen. „Es ist so
anstrengend, diese paar Stunden durchzuhalten“, sagt sie. Besonders
schmerzhaft sei für sie, dass er bei den Treffen ihre Tochter komplett
ignoriert und nur seinem Sohn Aufmerksamkeit schenkt.
## Umgangsrecht auch für gewalttätige Männer
„Gibt es irgendwelche Chancen, dass er die Kinder nicht mehr sehen darf?“,
fragt sie Peters. Auch wenn ihm das Sorgerecht entzogen werde, habe er
weiterhin ein Recht auf Umgang. Ihm das zu entziehen, werde schwierig,
dämpft die Sozialarbeiterin die Hoffnung der Mutter. „Ich versuche mal
einen Termin mit unserer Rechtsexpertin zu machen, die dir das besser
erklären kann“, sagt sie.
Dass Ex-Partner das Sorgerecht für Machtspiele ausnutzen, kommt häufig vor,
berichtet auch Rechtsanwältin Asha Hedayati. In Deutschland wird zwischen
Sorgerecht und Umgangsrecht unterschieden. Es ist fast unmöglich, dem Vater
den Umgang mit den Kindern zu verweigern. Es wird grundsätzlich davon
ausgegangen, dass der Umgang dem Kindeswohl dient. Unabhängig davon, ob der
Partner gewalttätig in der Beziehung war. „Das führt dazu, dass die
Gerichte Partnerschaftsgewalt in Umgangsrechtverfahren kaum
berücksichtigen“, sagt Hedayati.
Dies könnte sich ändern, wenn die Istanbul-Konvention vollständig umgesetzt
werden würde. Das internationale Abkommen zur Bekämpfung
geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen verlangt, dass in
Sorgerecht- und Umgangsrechtsverfahren auf von Gewalt betroffenen Frauen
mehr Rücksicht genommen wird. Dass es noch immer keine Synchronisation von
Gewaltschutz und Entscheidungen in diesen Verfahren gibt, kritisiert auch
das Bündnis Istanbul-Konvention, das wie Hedayati noch immer viele Lücken
bei der Umsetzung der Konvention sieht.
Auch das Bündnis sieht das Problem darin, dass noch immer keine
Gesamtstrategie und keine zentrale Koordinierungsstelle aufgebaut wurde.
Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt müssten laut dem Bündnis
zudem bindend sein und mit viel Geld unterfüttert werden. In Zeiten von
Haushaltseinsparungen machen sie sich Sorgen, ob das wirklich passieren
wird.
## Gewalt hört nach der Trennung nicht auf
Der Fall der jungen Mutter auf dem Spielplatz zeigt auch, dass mit einer
Trennung die Gewalt nicht automatisch aufhört. Sie nimmt oftmals nur eine
andere Form an, wie als Drohung und Stalking. „Die Gewalt hört oftmals erst
auf, wenn die Männer neue Partnerinnen haben“, sagt Peters. Partnerinnen,
die womöglich noch nicht ahnen, auf wen sie sich da einlassen.
„Er war ja nicht immer so“, das ist ein Satz, den die Landgrazien immer
wieder von Frauen zu hören bekommen, die sich bei ihnen melden. Die
Beziehungen beginnen oft harmonisch, viele haben das Gefühl, ihre große
Liebe gefunden zu haben, eine emotionale Abhängigkeit entsteht.
Die Gewalt kommt schleichend. Oftmals fängt der Partner an, seine Partnerin
immer mehr zu isolieren, um so besser Kontrolle über sie auszuüben. Während
er sie anfangs noch mit Komplimenten überhäuft, kommt es plötzlich zu
Beleidigungen oder Angriffen. Sich zu trennen, ist für viele kein einfacher
Schritt. Vor allem, wenn finanzielle Abhängigkeit besteht. „Die Frauen
müssen sich meist zwischen Armut oder Gewalt entscheiden“, sagt Peters.
Noch immer verdienen Frauen rund 18 Prozent weniger als ihre männlichen
Partner. Und Mütter verdienen zehn Jahre nach der Geburt ihres ersten
Kindes im Durchschnitt [4][61 Prozent weniger] als davor. Wenn eine
Betroffene eine gewalttätige Beziehung verlässt, findet sie sich deshalb
oft in einer extrem prekären wirtschaftlichen Lage wieder.
## Der Landkreis sieht keinen Bedarf
Deshalb kommt es auch vor, dass Frauen zu ihren gewalttätigen Partnern
zurückkehren. „Das nimmt mich persönlich natürlich mit, vor allem wenn
Kinder involviert sind“, sagt Peters. „Auf einer professionellen Ebene muss
ich das aber akzeptieren.“ Denn für die Beratung steht die Selbstbestimmung
der Frau im Mittelpunkt. Und zu dieser gehört eben auch die Freiheit, sich
für eine gewalttätige Beziehung zu entscheiden.
Obwohl der Anstieg von häuslicher Gewalt ihre mobile Beratungsstation
zwingend notwendig erscheinen lässt, ist die Finanzierung der Landgrazien
alles andere als geklärt. Im Jahr 2022 bekam die Beratungsstelle noch
40.000 Euro vom Landkreis.
Doch letztes Jahr machte der Schleswig-Holsteinische Landtag der Beratung
einen Strich durch die Rechnung. Denn das Geld sollte der Verein erst
bekommen, wenn auch Gelder aus dem Landeshaushalt fließen. Der Landtag
stimmte jedoch Ende März 2023 gegen die Finanzierung. „Es wurde damit
begründet, dass man sich auf bestehende Angebote fokussieren wolle und sie
keinen Bedarf an einer mobilen Beratung sehen“, sagt Peters.
Und der Kreis weigerte sich, das Geld aus dem eigenen Haushalt zu beziehen.
Dabei zeigte eine Bedarfsanalyse 2022, dass es keine flächendeckenden
Beratungsangebote in Schleswig-Holstein gibt und Beratungsstellen dringend
mehr gefördert werden sollten.
## Schutz von Frauen – keine Priorität?
Die grüne Frauenbeauftragte Catharina Nies sagt, dass die finanzielle
Förderung der Landgrazien damals Teil einer Anfrage der Oppositionsparteien
gewesen sei, die insgesamt eine Erhöhung von 10 Millionen Euro zur
Förderung von Frauenfacheinrichtungen in Schleswig-Holstein forderten. „Den
Anträgen wurde nicht zugestimmt, weil es in der angespannten Haushaltslage,
in der wir uns 2023 befanden und auch aktuell befinden, finanziell nicht
möglich war“, schreibt sie in einer Antwort per E-Mail.
Doch warum weigerte sich der Landkreis, selbst für die 40.000 Euro
aufzukommen? Auf taz-Anfrage heißt es dazu aus dem Landratsamt, dass
bestimmte Verwendungsnachweise für die gewährten Mittel aus dem Vorjahr
gefehlt hätten, weshalb bei der Mehrheit der Kreistagsmitglieder Skepsis in
Bezug auf eine weitere Förderung herrsche.
Laut den Landgrazien standen die Nachfragen und Reglementierungen in keinem
Verhältnis zu der Fördersumme – und bedeuteten zu viel Arbeit für das
kleine Team. „Politik ist immer eine Prioritätensetzung. Der Schutz von
Frauen scheint hier im Landkreis wohl keine Priorität zu sein“, sagt
Peters.
Die Bemühungen um öffentliche Gelder haben die Sozialarbeiterin sehr viel
Energie und Zeit gekostet. Sie hat sich deshalb vergangenen Oktober dazu
entschlossen, zunächst ohne öffentliche Gelder weiterzumachen. Die
gewonnene Zeit kann sie jetzt für Fundraising und ihre Beratung nutzen.
## Im permanenten Überlebensmodus
Es bleibt ein Gefühl der Enttäuschung, das auch immer wieder bei
Begegnungen mit Politikern verstärkt wurde. „Die Frauen sollen sich mal
nicht so anstellen, dann hätten wir das Problem ja nicht“, sagte ein
Kreispolitiker mal zu ihr. Ein anderer betonte, dass er ja gedacht hätte,
die Sache mit den Landgrazien würde sich von selbst erledigen, weil der
Kreis sie finanziell aushungern würde.
Peters schreckt nicht davor zurück, unangenehm aufzufallen. Sie möchte das
Schweigen auf dem Land brechen. Das Thema häusliche Gewalt ist weiterhin
tabuisiert, so entsteht der Eindruck, dass häusliche Gewalt dort nicht
existiert. Dabei ist das Gegenteil der Fall.
Anfang März sind Miriam Peters und Nadia zu einem Telefongespräch
verabredet. Nadia hat mit ihren Kindern ein paar turbulente Wochen hinter
sich. Nur wenige Tage nach dem Treffen vor dem Gemeindehaus floh sie vor
ihrem Partner. „Irgendwas hast du doch vor“, sagte dieser ihr. Obwohl sie
ihm keine Hinweise für ihre Flucht gab, habe er geahnt, dass sie gehen
will.
Um Nadia so schnell wie möglich an einen sicheren Ort zu bringen,
organisierte Peters ein Hotelzimmer für ihre Kinder und sie. Dann konnte
sie in einem Frauenhaus in Schleswig-Holstein unterkommen, mittlerweile ist
sie in einem Frauenhaus in Brandenburg. „Ich war in einem permanenten
Überlebensmodus, erst jetzt kann ich wieder etwas aufatmen“, sagt Nadia am
Telefon.
## Endlich wieder ruhig schlafen
Ihre Haustiere wurden bei der Familie in Brandenburg untergebracht.
Besonders schwer fiel ihr, den Kontakt zu ihren Freundinnen in ihrem
Heimatort abzubrechen. Eine weitere Vorsichtsmaßnahme, damit ihr Partner
nicht von ihrem Aufenthaltsort erfahren kann.
„Es tut so gut, endlich mal wieder schlafen zu können und keine Angst zu
haben, nachts aus dem Schlaf gerissen zu werden“, sagt Nadia. Sie wirkt
erleichtert am Telefon, so als hätte sie die richtige Entscheidung
getroffen. Mehrmals bedankt sie sich bei Peters.
Es ist vorerst das letzte Gespräch zwischen den beiden. Wenn die Frauen
erst einmal im Frauenhaus sind, geben die Landgrazien die Beratung an die
Kolleg:innen vor Ort weiter. Den Kontakt abzubrechen, nicht zu wissen,
wie es mit ihnen weitergeht, fällt Peters oftmals schwer.
Doch gleichzeitig freut sie sich für Frauen wie Nadia. „Es macht mich immer
wieder glücklich, miterleben zu können, wie eine Frau sich für ein
selbstbestimmtes Leben entscheidet“, sagt sie.
12 Apr 2024
## LINKS
[1] https://land-grazien.de/
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## AUTOREN
Sabina Zollner
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