# taz.de -- Häusliche Gewalt: Erste Hilfe bei Männergewalt | |
> Immer mehr Frauen in Deutschland sind von häuslicher Gewalt betroffen. | |
> Miriam Peters tourt mit einem Lieferwagen übers Land, um Betroffenen zu | |
> helfen. | |
Bild: Safe Space: Miriam Peters an ihrem zum Sprechzimmer umgebauten Lieferwagen | |
Nadia sitzt mit Miriam Peters im Laderaum eines Lieferwagens auf einem | |
Parkplatz vor einem Gemeindehaus irgendwo in Schleswig-Holstein. Der Ort | |
des Treffens darf aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Auch Nadia | |
heißt eigentlich anders. Die beiden sitzen auf einer Bank im | |
Miniaturwohnzimmer des Lieferwagens. Es ist eng, eine gewisse Nähe lässt | |
sich nicht vermeiden. Neben zwei Bänken ist ein kleiner Tisch eingebaut, | |
ein Gasofen spendet Wärme. Draußen ist es an diesem Tag Mitte Februar | |
eiskalt. | |
Vor dem Gemeindehaus parken nur wenige Autos, ein paar Windräder stehen in | |
der flachen, grünen Landschaft. Nadia wirkt nervös, während sie spricht. | |
„Wir haben uns jetzt entschlossen, in ein Frauenhaus zu gehen“, sagt sie. | |
Mit ihren beiden Söhnen will sie vor ihrem gewalttätigen Partner flüchten. | |
Die Sozialarbeiterin Miriam Peters ist [1][Gründerin der „Landgrazien“]. | |
Seit März 2021 bietet der Verein Frauen, die von Gewalt betroffen sind, | |
mobile Beratung im Kreis Herzogtum Lauenburg in Schleswig-Holstein an. Mit | |
ihrem Beratungsmobil treffen sie ihre Klientinnen dort, wo es für sie am | |
einfachsten ist. Das kann auf dem Weg in den Kindergarten, auf dem | |
Supermarktparkplatz oder an einer Bushaltestelle sein. So sinkt die | |
Wahrscheinlichkeit, dass der gewalttätige Partner etwas von dem Treffen | |
mitbekommt. | |
Besonders auf dem Land ist dies für Frauen wichtig. Denn hier kennt jede:r | |
jede:n. „Wenn Frauen eine klassische Beratungsstelle aufsuchen, dann kann | |
es schnell passieren, dass jemand aus der Nachbarschaft das mitbekommt“, | |
sagt Peters. Die Beratung ist in dieser Form in Deutschland einzigartig. | |
Jeden Tag werden die Landgrazien von Frauen kontaktiert. Im besten Fall | |
können Peters und ihr Team sie aus einer gewalttätigen Beziehung retten. | |
## Wenn es eskaliert, schicken sie ein Taxi | |
„Was soll ich den Kindern sagen?“, „Was passiert mit den Haustieren?“, … | |
komme ich ins Frauenhaus?“, all das sind Fragen, die Nadia beschäftigen. | |
Was ihr zu Hause widerfahren ist, spielt bei dem Gespräch keine Rolle. | |
Miriam Peters fragt auch nicht nach. Sie ist hier, um zuzuhören. Manchmal | |
weiß sie nicht einmal, wie ihre Klientinnen wirklich heißen, wo sie wohnen. | |
Denn es ist ihnen überlassen, wie viel sie teilen wollen. Nadia kennt sie | |
erst seit sechs Wochen, sie hat die Landgrazien über Instagram kontaktiert. | |
„Ich würde den Kindern erst mal gar nichts sagen, es kann immer sein, dass | |
sie sich verplappern“, rät die 33-Jährige der Mutter. Am liebsten würde sie | |
in ein Frauenhaus in Brandenburg gehen, da ihre Familie dort wohnt, sagt | |
Nadia. Peters verspricht ihr, dass ihr Team das versuchen wird. | |
„Wenn es zu Hause eskaliert, dann können wir dich mit dem Taxi abholen und | |
erst mal in eine Ferienwohnung bringen“, sagt sie. Nadia nickt, die Worte | |
scheinen sie zu beruhigen. „Wenn ich die Kleine morgen im Kindergarten | |
abgesetzt habe, können wir noch mal telefonieren“, sagt die Mutter, bevor | |
sie sich von Peters mit einer Umarmung verabschiedet. | |
Dass die Betroffenen nur zu ganz bestimmten Zeiten reden können, kommt | |
häufig vor. Die meisten Frauen, die sich bei Peters melden, haben einen | |
Partner, der sie rund um die Uhr überwacht, der jeden einzelnen Schritt | |
ihrer Partnerin kontrolliert. Das kann über ein GPS-Signal im Auto oder per | |
Suchfunktion mit dem Smartphone sein. Die Frauen müssen deshalb extrem | |
vorsichtig sein, wenn sie sich Hilfe holen. Denn es besteht immer die | |
Gefahr, dass die Gewalt eskaliert. | |
## Geheime Fluchtpläne | |
„Der gefährlichste Moment in einer Beziehung ist die Trennung“, sagt Miriam | |
Peters später bei einem Gespräch in ihrem Büro, einem kleinen, schlicht | |
gehaltenen Raum im Erdgeschoss eines Backsteinhauses. Die junge Frau mit | |
Nasenpiercing und kurzem Pony sitzt gerade an ihrem Schreibtisch. Wenn eine | |
Frau sich dazu entschließt, ins Frauenhaus zu gehen, muss das Team | |
wohlüberlegt vorgehen, erzählt sie. Es ist eine geheime Flucht, die man | |
plant. | |
Wichtige Unterlagen wie Geburtsurkunden müssen vorher versteckt und | |
mitgenommen, ein Frauenhausplatz muss organisiert werden. Manchmal muss die | |
Betroffene die Polizei darüber informieren, dass sie sich eigenständig | |
entschieden hat, zu gehen. Denn es kommt immer wieder vor, dass ihre | |
Partner eine Vermisstenanzeige machen. Ein Sperrvermerk beim Sozialamt | |
verhindert, dass die Behörden die neue Adresse weitergeben. | |
All das sind Dinge, die Frauen beachten müssen. Dinge, von denen die | |
meisten erst bei der Beratung erfahren. Ein persönliches Gespräch sei dabei | |
immer besser als ein Anruf: „Wenn mir eine Frau gegenübersitzt, kann sie | |
sehr viel schneller Vertrauen zu mir aufbauen“, sagt die Sozialarbeiterin. | |
Häusliche Gewalt nimmt in Deutschland stetig zu. Jede Stunde werden mehr | |
als 14 Frauen in Deutschland Opfer von Partnerschaftsgewalt. [2][Das | |
Bundeskriminalamt hat für das Jahr 2022] 240.547 Fälle von häuslicher | |
Gewalt ermittelt, 8,5 Prozent mehr als im Vorjahr. 13 Prozent Anstieg waren | |
es in den letzten fünf Jahren. Die Opfer sind zu 71 Prozent weiblich. | |
## Die Zahlen steigen rasant | |
Zu der Statistik zählen alle Formen körperlicher, sexueller oder | |
psychischer Gewalt. In 65,6 Prozent der Fälle geschah die Gewalt innerhalb | |
einer Partnerschaft. Die Hälfte der Opfer lebte mit ihrem Partner in einem | |
gemeinsamen Haushalt. Die meisten sind 30 bis 40 Jahre alt. | |
Warum die Zahlen im Jahr 2022 weiter gestiegen sind, ist nicht ganz klar. | |
Während der Coronazeit machte man die Kontaktbeschränkungen für den Anstieg | |
verantwortlich. Dass mehr Frauen häusliche Gewalt zur Anzeige bringen, kann | |
sich auch auf die Statistik auswirken. | |
Trotzdem gehen Expert:innen von einer sehr hohen Dunkelziffer aus. „Wir | |
haben seit 20 Jahren keine Zahlen, die das Dunkelfeld zu Gewalt gegen | |
Frauen beleuchten“, sagt Rechtsanwältin Asha Hedayati, die im Familienrecht | |
tätig ist und kürzlich ein Buch über häusliche Gewalt geschrieben hat. | |
Darin weist sie auch darauf hin, dass die Statistik verfälscht sei, da in | |
vielen Fällen Männer eine Gegenanzeige erstatten, wenn ihre Partnerin einen | |
Fall angezeigt hat, um so ihre Verurteilung zu erschweren. | |
Auch Miriam Peters dachte, dass sich die Lage mit dem Ende der | |
Coronapandemie etwas entspannen würde. Doch das war nicht der Fall. Die | |
Nachfrage hat sich bei den Landgrazien in den vergangenen Jahren kaum | |
verändert, sie werden eher von mehr Frauen kontaktiert, auch die | |
Gewalttaten seien extremer geworden. | |
## Therapien für gewalttätige Männer | |
Die Sozialarbeiterin wirkt nicht resigniert, wenn sie das erzählt. Für sie | |
ist es eher Ansporn weiterzumachen, so vielen zu helfen, wie möglich. „Ich | |
glaube, viele bekommen die Folgen von Corona erst jetzt zu spüren“, sagt | |
sie. Angehäufte Schulden, steigende Preise, das Gefühl, permanent eine | |
Krise zu durchleben: All das seien Risikofaktoren, die häusliche Gewalt | |
begünstigen. | |
Anwältin Hedayati sieht fehlende Präventionsmaßnahmen als Problem: „Mich | |
überrascht es wenig, dass die Zahlen weitersteigen, denn es wird nichts | |
unternommen, um die Gewalt zu verhindern.„Zwar plant die Bundesregierung | |
eine Gesamtstrategie und eine zentrale Koordinierungsstelle für Maßnahmen | |
gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, aber noch immer fehlt es [3][in | |
Deutschland an ausreichend Schutzeinrichtungen] und einer Reform der | |
juristischen Strukturen, welche die Opfer von Gewalt in den Mittelpunkt | |
stellen. | |
Laut Hedayati könnte man etwa Richter:innen gezielt fortbilden, um sie | |
für das Thema häusliche Gewalt zu sensibilisieren. Auch müsse man sich mehr | |
auf die Täterarbeit fokussieren, also abgesehen von Strafmaßnahmen gezielt | |
Kurse und Therapien für gewalttätige Männer fördern. | |
Beratungsstellen ausreichend finanziell zu unterstützen, ist eine weitere | |
Maßnahme gegen häusliche Gewalt. Die Landgrazien sind nur über | |
Stiftungsgelder und Spenden finanziert. Neben Peters sind eine | |
Koordinationskraft, eine Werkstudentin, eine Minijobberin und eine | |
Verwaltungsmitarbeiterin angestellt. Die 32-Jährige hat eine | |
30-Stunden-Stelle, arbeite aber eigentlich um die 50 bis 60 Stunden pro | |
Woche, sagt sie. Neben Beratungen kümmert sie sich um die Finanzierung, | |
pflegt den sozialen Medienkanal, besucht und organisiert Veranstaltungen. | |
## Die Vorteile: Man kennt sie | |
Peters ist in Laubenz, einem Dorf in der Nähe ihrer jetzigen | |
Beratungsstelle, aufgewachsen. Sie hat Internationales Management und | |
Sprachen in Amsterdam studiert, danach lebte sie jahrelang in Hamburg, | |
arbeitete dort bei einem Onlinehandel. Doch sie merkte schnell, dass der | |
Büroalltag nichts für sie ist. Sie lernte ihren Partner kennen, zog mit ihm | |
zurück aufs Land und bekam zwei Kinder. Ihr Interesse für soziale Arbeit | |
entstand in ihrer Elternzeit. „Mir war damals extrem langweilig, deshalb | |
habe ich ein Fernstudium in sozialer Arbeit angefangen“, sagt sie lachend. | |
Bei einem Praktikum im Frauenhaus in Lübeck kam sie zum ersten Mal näher | |
mit dem Thema häusliche Gewalt gegen Frauen in Berührung. Dort fiel ihr | |
auf, mit wie vielen Hürden Frauen auf dem Land zu kämpfen hatten, um Hilfe | |
zu bekommen. Sie startete die Landgrazien erst als ehrenamtliches Projekt | |
in ihrer Gemeinde und merkte schnell, dass es eine unglaubliche Nachfrage | |
nach alternativen Beratungsangeboten gab. | |
Neben den mobilen Beratungen bietet das Team auch Telefongespräche an, | |
klärt in den sozialen Medien über häusliche Gewalt auf. Dass sie aus der | |
Gegend kommt, spielt ihr in die Hände: „Dadurch, dass mich die Leute hier | |
kennen, ist es einfacher, Unterstützung für unseren Verein zu bekommen.“ | |
Peters wirkt wie eine Frau, die die Dinge einfach anpackt, die so schnell | |
wie möglich Lösungen sucht. Die nicht Nein sagen kann, wenn jemand nach | |
Hilfe fragt. Nach dem Treffen mit Nadia steht bereits der nächste Termin | |
an. Über die Landstraße geht es in ein kleines Dorf mit mehreren | |
Einfamilienhäusern in Backsteinoptik. | |
## Kontrolle, Isolation, Terror | |
Dort trifft Peters ihre Klientin auf dem Spielplatz. Die beiden kennen sich | |
schon seit einigen Monaten. Die Erzieherin ist heute nicht in der Kita, da | |
ihre Tochter krank geworden ist. Die 5-Jährige ist gerade am Schaukeln, das | |
kleine Mädchen wirkt sehr zurückhaltend, als die Mutter Miriam mit einer | |
herzlichen Umarmung empfängt. „Lass uns vielleicht da hinten reden“, sagt | |
sie. Sie wendet sich an ihre Tochter: „Schatz, ich gehe mal ganz kurz | |
darüber, um mit meiner Freundin zu reden, okay?“ | |
„Hast du eine Zigarette?“, fragt Peters die junge Mutter. „Nur eine, aber | |
wir können sie teilen“, sagt sie. Peters nimmt die Zigarette entgegen und | |
die Mutter fängt an zu sprechen. Wie ein Wasserfall sprudelt der Frust aus | |
ihr heraus. „Er kontrolliert wirklich alles, was ich mache“, sagt sie. | |
Anders als Nadia hat sie sich bereits vor drei Jahren von ihrem Ex-Partner | |
getrennt. | |
Seither lässt er ihr keine Ruhe. Er ruft sie ständig an, nutzt das geteilte | |
Sorgerecht aus, um Kontrolle über sie auszuüben, indem er sich weigert, | |
bestimmte Dokumente rechtzeitig zu unterschreiben. Immer wieder | |
terrorisiert er ihre Freunde und Familie, um mit ihr in Kontakt zu kommen. | |
Und ganz kann sie ihm nicht entfliehen. Denn der Vater darf die Kinder | |
einmal pro Woche sehen. Bei den Treffen will sie immer mit dabei sein, da | |
sie Angst hat, die Kinder mit ihm alleine zu lassen. „Es ist so | |
anstrengend, diese paar Stunden durchzuhalten“, sagt sie. Besonders | |
schmerzhaft sei für sie, dass er bei den Treffen ihre Tochter komplett | |
ignoriert und nur seinem Sohn Aufmerksamkeit schenkt. | |
## Umgangsrecht auch für gewalttätige Männer | |
„Gibt es irgendwelche Chancen, dass er die Kinder nicht mehr sehen darf?“, | |
fragt sie Peters. Auch wenn ihm das Sorgerecht entzogen werde, habe er | |
weiterhin ein Recht auf Umgang. Ihm das zu entziehen, werde schwierig, | |
dämpft die Sozialarbeiterin die Hoffnung der Mutter. „Ich versuche mal | |
einen Termin mit unserer Rechtsexpertin zu machen, die dir das besser | |
erklären kann“, sagt sie. | |
Dass Ex-Partner das Sorgerecht für Machtspiele ausnutzen, kommt häufig vor, | |
berichtet auch Rechtsanwältin Asha Hedayati. In Deutschland wird zwischen | |
Sorgerecht und Umgangsrecht unterschieden. Es ist fast unmöglich, dem Vater | |
den Umgang mit den Kindern zu verweigern. Es wird grundsätzlich davon | |
ausgegangen, dass der Umgang dem Kindeswohl dient. Unabhängig davon, ob der | |
Partner gewalttätig in der Beziehung war. „Das führt dazu, dass die | |
Gerichte Partnerschaftsgewalt in Umgangsrechtverfahren kaum | |
berücksichtigen“, sagt Hedayati. | |
Dies könnte sich ändern, wenn die Istanbul-Konvention vollständig umgesetzt | |
werden würde. Das internationale Abkommen zur Bekämpfung | |
geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen verlangt, dass in | |
Sorgerecht- und Umgangsrechtsverfahren auf von Gewalt betroffenen Frauen | |
mehr Rücksicht genommen wird. Dass es noch immer keine Synchronisation von | |
Gewaltschutz und Entscheidungen in diesen Verfahren gibt, kritisiert auch | |
das Bündnis Istanbul-Konvention, das wie Hedayati noch immer viele Lücken | |
bei der Umsetzung der Konvention sieht. | |
Auch das Bündnis sieht das Problem darin, dass noch immer keine | |
Gesamtstrategie und keine zentrale Koordinierungsstelle aufgebaut wurde. | |
Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt müssten laut dem Bündnis | |
zudem bindend sein und mit viel Geld unterfüttert werden. In Zeiten von | |
Haushaltseinsparungen machen sie sich Sorgen, ob das wirklich passieren | |
wird. | |
## Gewalt hört nach der Trennung nicht auf | |
Der Fall der jungen Mutter auf dem Spielplatz zeigt auch, dass mit einer | |
Trennung die Gewalt nicht automatisch aufhört. Sie nimmt oftmals nur eine | |
andere Form an, wie als Drohung und Stalking. „Die Gewalt hört oftmals erst | |
auf, wenn die Männer neue Partnerinnen haben“, sagt Peters. Partnerinnen, | |
die womöglich noch nicht ahnen, auf wen sie sich da einlassen. | |
„Er war ja nicht immer so“, das ist ein Satz, den die Landgrazien immer | |
wieder von Frauen zu hören bekommen, die sich bei ihnen melden. Die | |
Beziehungen beginnen oft harmonisch, viele haben das Gefühl, ihre große | |
Liebe gefunden zu haben, eine emotionale Abhängigkeit entsteht. | |
Die Gewalt kommt schleichend. Oftmals fängt der Partner an, seine Partnerin | |
immer mehr zu isolieren, um so besser Kontrolle über sie auszuüben. Während | |
er sie anfangs noch mit Komplimenten überhäuft, kommt es plötzlich zu | |
Beleidigungen oder Angriffen. Sich zu trennen, ist für viele kein einfacher | |
Schritt. Vor allem, wenn finanzielle Abhängigkeit besteht. „Die Frauen | |
müssen sich meist zwischen Armut oder Gewalt entscheiden“, sagt Peters. | |
Noch immer verdienen Frauen rund 18 Prozent weniger als ihre männlichen | |
Partner. Und Mütter verdienen zehn Jahre nach der Geburt ihres ersten | |
Kindes im Durchschnitt [4][61 Prozent weniger] als davor. Wenn eine | |
Betroffene eine gewalttätige Beziehung verlässt, findet sie sich deshalb | |
oft in einer extrem prekären wirtschaftlichen Lage wieder. | |
## Der Landkreis sieht keinen Bedarf | |
Deshalb kommt es auch vor, dass Frauen zu ihren gewalttätigen Partnern | |
zurückkehren. „Das nimmt mich persönlich natürlich mit, vor allem wenn | |
Kinder involviert sind“, sagt Peters. „Auf einer professionellen Ebene muss | |
ich das aber akzeptieren.“ Denn für die Beratung steht die Selbstbestimmung | |
der Frau im Mittelpunkt. Und zu dieser gehört eben auch die Freiheit, sich | |
für eine gewalttätige Beziehung zu entscheiden. | |
Obwohl der Anstieg von häuslicher Gewalt ihre mobile Beratungsstation | |
zwingend notwendig erscheinen lässt, ist die Finanzierung der Landgrazien | |
alles andere als geklärt. Im Jahr 2022 bekam die Beratungsstelle noch | |
40.000 Euro vom Landkreis. | |
Doch letztes Jahr machte der Schleswig-Holsteinische Landtag der Beratung | |
einen Strich durch die Rechnung. Denn das Geld sollte der Verein erst | |
bekommen, wenn auch Gelder aus dem Landeshaushalt fließen. Der Landtag | |
stimmte jedoch Ende März 2023 gegen die Finanzierung. „Es wurde damit | |
begründet, dass man sich auf bestehende Angebote fokussieren wolle und sie | |
keinen Bedarf an einer mobilen Beratung sehen“, sagt Peters. | |
Und der Kreis weigerte sich, das Geld aus dem eigenen Haushalt zu beziehen. | |
Dabei zeigte eine Bedarfsanalyse 2022, dass es keine flächendeckenden | |
Beratungsangebote in Schleswig-Holstein gibt und Beratungsstellen dringend | |
mehr gefördert werden sollten. | |
## Schutz von Frauen – keine Priorität? | |
Die grüne Frauenbeauftragte Catharina Nies sagt, dass die finanzielle | |
Förderung der Landgrazien damals Teil einer Anfrage der Oppositionsparteien | |
gewesen sei, die insgesamt eine Erhöhung von 10 Millionen Euro zur | |
Förderung von Frauenfacheinrichtungen in Schleswig-Holstein forderten. „Den | |
Anträgen wurde nicht zugestimmt, weil es in der angespannten Haushaltslage, | |
in der wir uns 2023 befanden und auch aktuell befinden, finanziell nicht | |
möglich war“, schreibt sie in einer Antwort per E-Mail. | |
Doch warum weigerte sich der Landkreis, selbst für die 40.000 Euro | |
aufzukommen? Auf taz-Anfrage heißt es dazu aus dem Landratsamt, dass | |
bestimmte Verwendungsnachweise für die gewährten Mittel aus dem Vorjahr | |
gefehlt hätten, weshalb bei der Mehrheit der Kreistagsmitglieder Skepsis in | |
Bezug auf eine weitere Förderung herrsche. | |
Laut den Landgrazien standen die Nachfragen und Reglementierungen in keinem | |
Verhältnis zu der Fördersumme – und bedeuteten zu viel Arbeit für das | |
kleine Team. „Politik ist immer eine Prioritätensetzung. Der Schutz von | |
Frauen scheint hier im Landkreis wohl keine Priorität zu sein“, sagt | |
Peters. | |
Die Bemühungen um öffentliche Gelder haben die Sozialarbeiterin sehr viel | |
Energie und Zeit gekostet. Sie hat sich deshalb vergangenen Oktober dazu | |
entschlossen, zunächst ohne öffentliche Gelder weiterzumachen. Die | |
gewonnene Zeit kann sie jetzt für Fundraising und ihre Beratung nutzen. | |
## Im permanenten Überlebensmodus | |
Es bleibt ein Gefühl der Enttäuschung, das auch immer wieder bei | |
Begegnungen mit Politikern verstärkt wurde. „Die Frauen sollen sich mal | |
nicht so anstellen, dann hätten wir das Problem ja nicht“, sagte ein | |
Kreispolitiker mal zu ihr. Ein anderer betonte, dass er ja gedacht hätte, | |
die Sache mit den Landgrazien würde sich von selbst erledigen, weil der | |
Kreis sie finanziell aushungern würde. | |
Peters schreckt nicht davor zurück, unangenehm aufzufallen. Sie möchte das | |
Schweigen auf dem Land brechen. Das Thema häusliche Gewalt ist weiterhin | |
tabuisiert, so entsteht der Eindruck, dass häusliche Gewalt dort nicht | |
existiert. Dabei ist das Gegenteil der Fall. | |
Anfang März sind Miriam Peters und Nadia zu einem Telefongespräch | |
verabredet. Nadia hat mit ihren Kindern ein paar turbulente Wochen hinter | |
sich. Nur wenige Tage nach dem Treffen vor dem Gemeindehaus floh sie vor | |
ihrem Partner. „Irgendwas hast du doch vor“, sagte dieser ihr. Obwohl sie | |
ihm keine Hinweise für ihre Flucht gab, habe er geahnt, dass sie gehen | |
will. | |
Um Nadia so schnell wie möglich an einen sicheren Ort zu bringen, | |
organisierte Peters ein Hotelzimmer für ihre Kinder und sie. Dann konnte | |
sie in einem Frauenhaus in Schleswig-Holstein unterkommen, mittlerweile ist | |
sie in einem Frauenhaus in Brandenburg. „Ich war in einem permanenten | |
Überlebensmodus, erst jetzt kann ich wieder etwas aufatmen“, sagt Nadia am | |
Telefon. | |
## Endlich wieder ruhig schlafen | |
Ihre Haustiere wurden bei der Familie in Brandenburg untergebracht. | |
Besonders schwer fiel ihr, den Kontakt zu ihren Freundinnen in ihrem | |
Heimatort abzubrechen. Eine weitere Vorsichtsmaßnahme, damit ihr Partner | |
nicht von ihrem Aufenthaltsort erfahren kann. | |
„Es tut so gut, endlich mal wieder schlafen zu können und keine Angst zu | |
haben, nachts aus dem Schlaf gerissen zu werden“, sagt Nadia. Sie wirkt | |
erleichtert am Telefon, so als hätte sie die richtige Entscheidung | |
getroffen. Mehrmals bedankt sie sich bei Peters. | |
Es ist vorerst das letzte Gespräch zwischen den beiden. Wenn die Frauen | |
erst einmal im Frauenhaus sind, geben die Landgrazien die Beratung an die | |
Kolleg:innen vor Ort weiter. Den Kontakt abzubrechen, nicht zu wissen, | |
wie es mit ihnen weitergeht, fällt Peters oftmals schwer. | |
Doch gleichzeitig freut sie sich für Frauen wie Nadia. „Es macht mich immer | |
wieder glücklich, miterleben zu können, wie eine Frau sich für ein | |
selbstbestimmtes Leben entscheidet“, sagt sie. | |
12 Apr 2024 | |
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