# taz.de -- Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen: Noch viel zu tun | |
> Der Europarat attestiert Deutschland Defizite beim Schutz von Frauen und | |
> Mädchen vor Gewalt. Es fehle ein nationaler Aktionsplan. | |
Bild: Protestaktion in Berlin „Femizide stoppen!“ nach dem Mord an einer ju… | |
BERLIN taz | Nach dem diesjährigen Oktoberfest in München interessierte vor | |
allem der Blick auf die [1][in die Höhe schnellenden Coronazahlen]. Eine | |
andere Statistik, die „auf den Wiesn“ jedes Jahr erhoben wird, erregte | |
hingegen kaum Aufmerksamkeit: die der angezeigten Sexualdelikte. 55 wurden | |
in diesem Jahr von der Polizei aufgenommen, 2019 waren es 47. Eine leider | |
normalgewordene Statistik, die die jüngste Feststellung des Europarats | |
unterstreicht: Deutschland tut noch nicht genug, um Frauen vor | |
geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen. | |
Trotz vorhandener Schutzkonzepte berichteten Frauen, dass ihnen auf dem | |
Oktoberfest zwischen die Beine gefasst oder unters Dirndl fotografiert | |
wurde. Drei Vergewaltigungen wurden polizeilich erfasst. Wie jedes Jahr ist | |
davon auszugehen, dass die Dunkelziffer hoch ist, weil viele sexualisierte | |
Straftaten nicht zur Anzeige gebracht werden. | |
Sexualdelikte, sei es beim Okotberfest oder beim Karneval, und häusliche | |
(Partnerschafts-)Gewalt betreffen besonders häufig Frauen. Um | |
geschlechterspezifische Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen unterzeichneten | |
die 46 Mitgliedsstaaten des Europarates im Jahr 2011 die Istanbul | |
Konvention. Im Februar 2018 trat diese in Deutschland gesetzlich in Kraft. | |
## Unterschiede in Städten und auf dem Land | |
Nun hat eine Expert*innenkommission des Europarats untersucht, | |
inwieweit sich die Situation für Frauen und Mädchen in Deutschland seitdem | |
verbessert hat. Dabei stellte das Fachgremium [2][gravierende Defizite] | |
fest. | |
In ihrem am [3][Freitag veröffentlichten Bericht] werden zunächst | |
Entwicklungen im deutschen Strafrecht begrüßt, wie etwa die Einführung des | |
Grundsatzes [4][“Nein heißt nein“] bei Vergewaltigung und sexualisierter | |
Gewalt oder der erfolgreiche Betrieb des nationalen Hilfetelefons. Die | |
Expert*innengruppe hob auch die ausdrückliche Kriminalisierung von | |
technologiegestütztem Missbrauch, also zum Beispiel Cyber-Stalking oder | |
unerlaubtes Fotografieren privater Körperteile positiv hervor. Diese habe | |
„in den letzten Jahren zu einem soliden Rechtsrahmen für die digitale | |
Dimension der Gewalt gegen Frauen beigetragen“. | |
Dennoch sei in Deutschland noch viel zu tun. So gebe es große Diskrepanzen | |
zwischen Stadt und Land, aber auch innerhalb der 16 Bundesländer. | |
[5][Frauenhäuser und Beratungsstellen] seien sehr ungleich verteilt, | |
außerdem gebe es lange Wartelisten. Das Gremium forderte, dass alle | |
weiblichen Gewaltopfer kostenlosen Zugang zu speziellen Schutzunterkünften | |
haben sollten. | |
Als Negativbeispiel muss Berlin herhalten: In einer Stadt mit 3,7 Millionen | |
Einwohner*innen gebe es laut dem Bericht gerade mal eine | |
Beratungsstelle für Vergewaltigungsopfer. Dort arbeiten weniger als neun | |
Mitarbeitende und es gibt eine durchschnittliche Wartezeit von zwei Monaten | |
für eine Erstberatung. | |
Der Paritätische Wohlfahrtsverband, in dessen Mitgliedschaft 130 | |
Frauenhäuser und 190 Frauenberatungsstellen organisiert sind, fordert | |
Nachbesserungen. „Es kann nicht sein, dass es von der Wohnregion abhängt, | |
ob man sich vor einem prügelnden Partner schützen kann“, so Ulrich | |
Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. | |
Kritik kommt auch von der Berliner Anwältin für Familienrecht Asha | |
Hedayati. Sie vertritt überwiegend Frauen, die sich aus gewalttätigen | |
Beziehungen lösen und [6][twittert]: „Nichts ist überraschend am Bericht | |
des Europarats. Alles, was da steht, kann ich aus der Praxis bestätigen. | |
Deutschland ~weiß~ um den desaströsen Zustand des Gewaltschutzes. Es fehlt | |
schlicht der politische Wille, diesen Zustand zu verändern.“ | |
Die Expert*innen des Europarats fordern außerdem mehr Schulungen, damit | |
Menschen, die mit Opfern oder Täter*innen von Gewalt zu tun haben, diese | |
auch erkennen können, sowie einen Überprüfungsmechanismus für [7][häusliche | |
Tötungsdelikte]. Dem Bericht zufolge bieten beispielsweise fast alle | |
Polizeiakademien auf Länderebene Ausbildungseinheiten zum Umgang mit | |
häuslicher Gewalt an. Frauenrechtsgruppen und in diesem Bereich tätige | |
Expert*innen wiesen jedoch darauf hin, dass diese Kenntnisse zu | |
grundlegend seien und in der Praxis nicht immer umgesetzt würden. Auch in | |
der deutschen Justiz gebe es zu viele negative geschlechterspezifische | |
Stereotype und Haltungen. Eine Täter-Opfer-Umkehr bestehe fort. Auch wird | |
sexuelle Gewalt weiterhin milder beurteilt, wenn der Täter ein aktueller | |
oder ehemaliger Partner ist. | |
## Zu wenig Schutz für asylsuchende Frauen | |
Der Bericht fordert die deutschen Behörden dringend auf, eine „unabhängige | |
vergleichende Analyse“ der bestehenden nationalen, föderalen und lokalen | |
Maßnahmen und Programme zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, | |
einschließlich häuslicher Gewalt, durchzuführen. So sollen Defizite sowie | |
vielversprechende Ansätze ermittelt werden, die landesweit empfohlen werden | |
können. | |
Während auf Landesebene nahezu flächendeckend Aktionspläne verabschiedet | |
worden sind, fehle ein nationaler Aktionsplan in Deutschland. Diesen sieht | |
[8][die Istanbul-Konvention] aber vor. | |
Der Bericht sieht auch Verbesserungsbedarf beim Schutz für geflüchtete | |
Frauen in Gemeinschaftsunterkünften. Sie bräuchten Zugang zu | |
Beratungsstellen, da es „anhaltende Sicherheitsbedenken“ für sie gebe, die | |
sich unter anderem durch die nicht nach Geschlechtern getrennten Zimmer in | |
Unterkünften ergäben. Die Kommission äußert „große Besorgnis“ nach | |
Berichten über unsichere Waschräume, schlechte Beleuchtung und fehlende | |
Rückzugsräume. | |
Asylsuchende berichteten auch von Missbrauch durch Sicherheitspersonal und | |
bemängelten das schlechte Management von Belästigungsvorfällen und | |
Missbrauch durch männliche Bewohner, einschließlich der Nichtdurchsetzung | |
von Schutzanordnungen gegen gewalttätige (Ehe)partner. | |
Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack forderte als Reaktion auf | |
den Bericht bundesweit verbindliche Regelungen für die Unterstützung von | |
Gewaltopfern. Diese seien „seit Jahren überfällig“. Außerdem forderte der | |
DGB einen „Rechtsanspruch auf sofortigen Schutz für alle Opfer von | |
häuslicher Gewalt, von der vor allem Frauen betroffen sind“, so Hannack in | |
Berlin. | |
Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Lisa Paus | |
(Grüne) äußerte sich zu dem Bericht des Expert*innengremiums in einer | |
Pressemitteilung: „Ich stehe zur vorbehaltlosen Umsetzung der | |
Istanbul-Konvention. Wir haben sie im Koalitionsvertrag vereinbart, und sie | |
ist für mich als Frauenministerin und Feministin eine wichtige Richtschnur. | |
Wir werden daher das Recht auf Schutz vor Gewalt für jede Frau und ihre | |
Kinder absichern“, so Paus. | |
Auf Bundesebene habe man vereinbart, dass ein Rechtsrahmen für die | |
verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern geschaffen werden soll. | |
Außerdem wolle die Bundesregierung eine Koordinierungsstelle einrichten, | |
die eine Strategie zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen erarbeiten | |
werde. Paus kündigte außerdem an, dass ihr Ministerium noch in diesem Jahr | |
eine unabhängige Beobachtungsstelle einrichten werden, bei der Daten und | |
Erkenntnisse zur Gewalt gegen Frauen zusammengeführt werden sollen. | |
7 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Oktoberfest-und-Exzess/!5881438 | |
[2] /Nach-Femizid-in-Nordhessen/!5856897 | |
[3] https://rm.coe.int/report-on-germany-for-publication/1680a86937 | |
[4] /Reform-des-Sexualstrafrechts/!5809595 | |
[5] /Gewalt-gegen-Frauen/!5880315 | |
[6] https://twitter.com/frauasha | |
[7] /Gewalt-gegen-Frauen-und-Queers/!5884540 | |
[8] /Menschenrechtlerin-zu-Gewalt-an-Frauen/!5660892 | |
## AUTOREN | |
Linda Gerner | |
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