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# taz.de -- Umstrittener Polizeieinsatz in Sachsen: Gewaltsame Inobhutnahme
> Einer Mutter wird mit Gewalt das Kind entrissen. Der Polizeieinsatz wirft
> Fragen nach der Verhältnismäßigkeit auf.
Bild: Die Art des Polizeieinsatzes wirft für die beteiligte Sozialarbeiterin F…
Berlin taz | Am Donnerstagabend vergangener Woche kam es in Königshain im
sächsischen Landkreis Görlitz zu einem Einsatz, bei dem Polizist:innen
den fünf Wochen alten Benjamin (Name geändert) gewaltsam in Obhut nahmen.
Der Fall wirft Fragen nach der Verhältnismäßigkeit eines solchen
Polizeieinsatzes auf.
Benjamin befand sich zu dem Zeitpunkt mit seiner 31-jährigen, aus Augsburg
stammenden, leiblichen Mutter Margarete Katz (Name geändert) bei der
Sozialarbeiterin und Aktivistin Carola Wilcke in einer
Eltern-Kind-Einrichtung. Gegen 18.30 Uhr, es war schon dunkel, stürmten
Polizeibeamt:innen Wilckes Haus. Sie verlangten von der Mutter, die
gerade beim Stillen war, die Herausgabe des Säuglings.
## Verdacht auf „Entziehung eines Minderjährigen“
Dazu habe ein Beamter Margarete Katz am Hals gepackt, sodass sie ihre Arme
öffnete, berichtet Wilcke. „Zwei weibliche Beamtinnen verdrehten der Mama
die Arme und entrissen wenig feinfühlig das schreiende Baby“, so die
Sozialarbeiterin. Ebenfalls vor Ort seien mehrere Personen gewesen, die die
Geschehnisse als Augenzeug:innen miterlebten: eine andere Mutter mit
ihrer achtjährigen Tochter sowie zwei weitere Kinder im Alter von drei und
vier Jahren, die Wilcke in Pflege hat.
Auf Anfrage der taz berichtet der Sprecher der Polizeidirektion Görlitz Kai
Siebenäuger, was sich nach Darstellung seiner Behörde zugetragen hat. Die
sächsischen Beamt:innen hätten in Amtshilfe für die Behörden in Augsburg
gehandelt, die wegen „Entziehung eines Minderjährigen“ Ermittlungen gegen
die Mutter führen. Der Einsatz diente dazu, das [1][Baby von der Mutter zu
trennen] und zum leiblichen Vater nach Augsburg zu bringen.
Am Nachmittag hätten die eingesetzten Beamt:innen in dem Haus in
Königshain zunächst niemanden angetroffen. Als abends dann doch jemand im
Haus war und sie in Begleitung eines Notarztes zurückkehrten, sei nicht
geöffnet worden, so Siebenäuger. Ein Schlüsseldienst sei hinzugerufen
worden, um die Haustür zu öffnen.
Über die Abläufe des dann folgenden Polizeieinsatzes gibt es
unterschiedliche Darstellungen: Polizeisprecher Siebenäuger sagt, die
Mutter des Säuglings habe sich gewehrt und ihr Kind nicht freiwillig
herausgeben wollen. Sie habe sich im Badezimmer eingeschlossen. Der
Polizeisprecher sagt auch, es sei inzwischen Strafanzeige gegen die Mutter
gestellt worden. Der Vorwurf: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.
Die Leiterin der Mutter-Kind-Einrichtung hingegen wirft den Beamt:innen
einen „klaren Fall von Polizeigewalt“ vor. Bei der Polizeidirektion Görlitz
heißt es dazu: Es liege keine entsprechende Anzeige vor: „Wenn es zu einer
Situation gekommen ist, wo sich jemand als Geschädigter sieht, muss er das
zur Anzeige bringen. Das ist bisher nicht der Fall.“
## Herausgabe des Säugling wurde angeordnet
Behörden und Polizei beziehen sich bei ihrem Vorgehen auf zwei Dokumente
aus Augsburg, einen Bericht des dortigen Jugendamtes vom 20. Oktober sowie
einen „wegen der Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung“ gefassten
Beschluss des Augsburger Familiengerichts vom 13. Oktober. Nach Darstellung
des Jugendamtes befand sich die Kindsmutter „mit einem besonders
schutzbedürftigen Neugeborenen auf der Flucht“.
Es gehe um eine „akute Kindeswohlgefährdung, welche schnellstmöglich zu
beenden ist“. Bei der Mutter sei „im Fallverlauf eine labile psychische
Verfassung wahrgenommen“ worden. „Aufgrund der derzeitigen Flucht ist daher
davon auszugehen, dass sich der damit verbundene Druck zusätzlich negativ
auf die psychische Verfassung der Kindsmutter auswirkt.“ Die geschilderten
Umstände könnten „bei einem Säugling sehr schnell zu einer akuten
Gefährdung für Leib und Leben des Kindes führen“.
Das Amtsgericht wiederum hatte beschlossen, dass die Mutter das Kind an den
Kindsvater „herauszugeben“ habe. Ausdrücklich ermächtigt wurde in dem
Beschluss, „bei der Vollstreckung unmittelbaren Zwang gegenüber der zur
Herausgabe verpflichteten Person auszuüben“. Sollte sich die Mutter
weigern, wurde ihr ein Ordnungsgeld von bis zu 25.000 Euro, ersatzweise bis
zu sechs Monate Ordnungshaft, angedroht.
Der Ehrenvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, sagte der
taz, nach seinem Eindruck sei der ihm beschriebene Polizeieinsatz
„gründlich schiefgegangen“. Becker, selbst ehemaliger Polizist, erläutert…
„Die eingesetzten Beamten bezogen sich rechtlich auf Paragraf 22 des
Sächsischen Polizeigesetzes, der es grundsätzlich ermöglicht, ein Kind in
Gewahrsam zu nehmen, das sich der Obhut seines Sorgeberechtigten entzogen
hat. Allerdings verweist derselbe Paragraf auf das hier einschlägige
Verfahren in Familiensachen, und hiernach wäre zunächst einmal ein
Gerichtsvollzieher zuständig gewesen, den Säugling in Obhut zu nehmen.“
Dieser hätte die Polizei „allenfalls anrufen können, wenn er die
begründbare Gefahr gesehen hätte, dass er bei der Vollstreckungsmaßnahme
tätlich angegriffen wird“. Eine Ausnahme hiervon hätte allenfalls bei so
genannter Gefahr im Verzuge bestanden. Diese hätte in diesem Fall das um
Amtshilfe ersuchende Jugendamt konkret begründen müssen, sagte Becker.
„Bloße Vermutungen oder Behauptungen reichen hierfür auf keinen Fall aus,
und die Polizei hätte hier konkret nachfragen und gegebenenfalls die
erbetene Amtshilfe verweigern müssen.“ Allein die Tatsache, dass sich die
Mutter des Kindes in einer betreuten Mutter-Kind-Einrichtung befand, sprach
nach seinen Worten „in erheblichem Maße gegen Vermutungen, dass die Mutter
zum Beispiel suizidgefährdet sein könnte.“
## Konflikt der Eltern beim Jugendamt bekannt
Beim Augsburger Jugendamt ist der Konflikt der Eltern seit Jahren bekannt.
Die beiden haben gemeinsam noch eine siebenjährige Tochter, die seit April
in einer Pflegefamilie untergebracht ist. Die noch verheirateten Eltern des
kleinen Benjamin leben seit Januar, kurz nachdem die Mutter schwanger
wurde, getrennt. Der Vater stellte seine Frau beim Jugendamt als „sehr
belastet und psychisch instabil“ dar und berichtete von „enormen
Wutausbrüchen“ seiner Frau, wie aus der taz vorliegenden Dokumenten
hervorgeht. Die Frau wiederum sagt, sie werde von ihrem Mann „psychisch
unterdrückt“ und erhebt den [2][Vorwurf häuslicher Gewalt]. Im Verlauf des
Verfahrens machte sich das Jugendamt weitgehend die Sicht des Vaters
zueigen.
Die Mutter wurde noch am Donnerstagabend im Städtischen Klinikum auf
Veranlassung des Notarztes psychiatrisch vorgestellt. Der Facharzt
bescheinigt der Frau, sie sei „bewusstseinsklar, psychosomatisch
unauffällig, kontaktbereit und kontaktfähig, freundlich zugewandt“. Weiter
heißt es: „Die Patientin war durch den gewaltigen Entzug ihres neugeborenen
Kindes erschüttert, was völlig verständlich war.“ Im psychopathologischen
Befund hätten sich „keine Auffälligkeiten“ ergeben, berichtet der Arzt
weiter.
Benjamin* wurde nach Angaben des Polizeisprechers Bereitschaftspflegeeltern
übergeben und soll sich jetzt nach taz-Informationen bei dem leiblichen
Vater in Augsburg befinden.
31 Oct 2022
## LINKS
[1] /Istanbul-Konvention-in-Deutschland/!5891334
[2] /Bekaempfung-von-Gewalt-gegen-Frauen/!5886457
## AUTOREN
Matthias Meisner
## TAGS
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Mütter
Mutterschaft
Sozialarbeit
Rechtsstreit
Alleinerziehende
Schwerpunkt Rassismus
Gewalt gegen Frauen
taz-Serie Sexuelle Gewalt
Kolumne Habibitus
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