| # taz.de -- Sexuelle Gewalt: „Die Leute wollen nicht hinsehen“ | |
| > Vor allem für Frauen mit Lernschwierigkeiten ist die Gefahr sexueller | |
| > Übergriffe hoch. Über die Ursachen spricht Pia Witthöft von der | |
| > „Mutstelle“. | |
| Bild: Aus einer Serie für das WIR-Magazin zum Thema Gewalt an Menschen mit Beh… | |
| taz: Frau Witthöft, Sie beraten bei der [1][„Mutstelle“] Menschen mit | |
| Lernschwierigkeiten, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Wo ist die | |
| Gefahr am höchsten? | |
| Pia Witthöft: Ich würde sagen, dort, wo pädagogisch nicht geschulte | |
| Arbeitskräfte im Einsatz sind. | |
| Bei Fahrdiensten zum Beispiel? | |
| Ja, das kommt leider immer wieder vor. Ansonsten sind die Vorfälle ähnlich | |
| zu denen, die wir auch sonst kennen: Am Arbeitsplatz, [2][im häuslichen | |
| Umfeld], in Partnerschaften, im öffentlichen Raum. Aber das Ausmaß an | |
| Abhängigkeit von Menschen mit Lernschwierigkeiten ist viel höher, sie | |
| wehren sich häufig spät oder werden nicht ernst genommen. | |
| Kommen die Betroffenen selbst zu Ihnen? | |
| Selten. Meistens sind es Fachkräfte aus Einrichtungen oder Angehörige, die | |
| sich an uns wenden. | |
| Woran liegt das? | |
| [3][Menschen mit Lernschwierigkeiten sind häufig ausgeschlossen] von | |
| Informationen zu ihren Rechten, nicht nur in Bezug auf die sexuelle | |
| Selbstbestimmung. Und dann müssen sie ja auch wissen, an wen sie sich | |
| wenden können. Selbst wenn überall Flyer von uns liegen würden, müssen die | |
| Menschen sie lesen und verstehen können, müssen die Nummer wählen können. | |
| Und dann ist es noch eine Frage von Mut, deshalb heißt unsere | |
| Beratungsstelle auch Mutstelle. | |
| Erklären Sie das bitte. | |
| Es gibt Statistiken, wie oft [4][Kinder, die sexualisierte Gewalt erlebt | |
| haben, nach Hilfe fragen müssen], bevor sie gehört werden: Im Durchschnitt | |
| sieben Mal! Das erleben auch Menschen mit Lernschwierigkeiten: Dass ihnen | |
| nicht geglaubt wird, dass keiner Zeit hat, dass abgewiegelt wird. Und | |
| häufig stehen sie gerade zu der Person in einem Abhängigkeitsverhältnis, | |
| die übergriffig wird. | |
| Wer ist das zum Beispiel? | |
| Das können Fachkräfte oder Angehörige sein. Aber wir haben auch relativ | |
| viele Fälle, in denen andere Menschen mit Lernschwierigkeiten übergriffig | |
| werden. Auch da gibt es Abhängigkeiten, zum Beispiel weil die betroffene | |
| Person froh ist, endlich einen Freund zu haben und sich vielleicht unwohl | |
| fühlt, aber nie gelernt hat, dass die eigenen Grenzen von anderen | |
| respektiert werden müssen. „Das gehört dazu, wenn du meine Frau bist“, | |
| sagen übergriffige Partner häufig. Da wird viel ausgehalten, ehe sich die | |
| Betroffenen Hilfe suchen. | |
| Das klingt wie die Lage der Frauen in den Sechziger Jahren. Ist die | |
| sexuelle Selbstbestimmung nicht angekommen bei Menschen mit | |
| Lernschwierigkeiten? | |
| Punktuell schon, aber das reicht nicht. Man muss sich vergegenwärtigen, | |
| dass Menschen mit Lernschwierigkeiten häufig schon sehr früh und anhaltend | |
| Grenzverletzungen erleben. Schon als Kind haben sie sich zum Teil daran | |
| gewöhnt, dass andere sie behandeln, für sie entscheiden, sich ihr Leben am | |
| Plan anderer orientiert. Ich versuche mir immer vorzustellen, was das mit | |
| meinem Selbstwertgefühl machen würde, wenn jeder Tag damit beginnt, dass | |
| andere für mich entscheiden. Ich kann weder bestimmen, wann ich aufstehe | |
| noch wann oder ob ich dusche, nebenbei streicht mir einer ein Brot, das mir | |
| gar nicht schmeckt. Und wenn ich mich wehre, versteht das vielleicht keiner | |
| oder ich werde als trotzig abgetan. Das betreuende System ist häufig nicht | |
| auf Selbstbestimmtheit ausgerichtet. Da bleibt dann ein innerer Abdruck von | |
| eigener Wertlosigkeit, von fehlender Wirksamkeit. | |
| Ist es nicht Aufgabe der Fachkräfte in Einrichtungen, dass Menschen so weit | |
| es geht selbstbestimmt leben und arbeiten können? | |
| Theoretisch ist das so. Aber wir sind immer noch mittendrin im | |
| Paradigmenwechsel von weniger Betreuung und mehr Begleitung. | |
| Und dieser Paradigmenwechsel wird zusätzlich erschwert durch Personal- und | |
| Zeitmangel, oder nicht? Wenn zum Beispiel eine Pflegeperson für 10 | |
| Bewohner*innen zuständig ist, ist es doch schwer, nicht nur zu | |
| versorgen. | |
| Sicher. Aber die Haltung, mit der ich auch in solch schwierigen Situationen | |
| mit Menschen mit Lernschwierigkeiten umgehe, ist entscheidend. Dass ich | |
| auch dann nicht vergesse, dass ich mit Menschen arbeite, die ein Recht auf | |
| Selbstbestimmung haben. | |
| Wer entscheidet, was passiert, wenn Ihnen ein klarer Fall sexualisierter | |
| Gewalt zugetragen wird? | |
| Es gibt Situationen, in denen alle, die im Bilde sind, am liebsten sofort | |
| eingreifen und die Polizei einschalten würden. Aber manchmal muss man es | |
| auch aushalten, dass die betroffene Person das noch nicht möchte. Auch da | |
| gehört es zur Selbstbestimmung, ihr nicht die Kontrolle zu nehmen. Wer | |
| hierher kommt, hat die Sicherheit, es passiert nichts, was du nicht willst. | |
| Mögen Sie mir von einem typischen Fall berichten? | |
| Der gemeinsame Nenner ist fast immer die emotionale Abhängigkeit der | |
| betroffenen Person und eine gewisse Machtposition der ausübenden Person. | |
| Das kann auch der Kollege in der Werkstatt oder der Mitbewohner sein. Eine | |
| Fallkonstellation, die ich aber auch schon mehrfach betreut habe, ist die | |
| von Fremdtätern, die ganz gezielt Menschen vor Förderschulen und | |
| Werkstätten ausspähen und sie dann unter falschen Versprechungen nach Hause | |
| locken. Wir müssen davon ausgehen, dass es da ein ähnliches Täterverhalten | |
| wie bei pädosexuellen Tätern gibt. Und zwar häufiger, als ich das gedacht | |
| hätte. | |
| Das Spektrum der Menschen mit Lernschwierigkeiten ist riesig. Von Menschen, | |
| die klar für sich sprechen können und anderen, die nicht mit Worten oder | |
| Gesten kommunizieren können. Wen können Sie überhaupt erreichen? | |
| Ich fürchte, es bleiben Gruppen übrig. Wenn sich jemand verbal nicht in | |
| unserer gewohnten Weise äußern kann, dann ist die Person auf Menschen aus | |
| dem Umfeld angewiesen, die Zeichen der Gewalt erkennen: Angst und | |
| Anspannung in bestimmten Situationen oder blaue Flecke, die sich nicht | |
| anders erklären lassen. | |
| Die Gefahr gerade für Frauen in Einrichtungen ist lange bekannt und dennoch | |
| erfährt die Öffentlichkeit von so wenigen Fällen. Haben die Einrichtungen | |
| Angst, darüber zu sprechen? | |
| Es gibt sicher die Angst, das könnte auf den Ruf der Einrichtung | |
| zurückfallen. Aber ehrlich gesagt bin ich froh über jede Einrichtung, die | |
| darüber spricht. Dann weiß ich wenigstens, dass das dort nicht unter den | |
| Teppich gekehrt wird. Das gilt auch für die Öffentlichkeit. Ich habe mal | |
| bei einem Fernsehbeitrag mitgewirkt über sexualisierte Gewalt in | |
| Einrichtungen. Und die Quoten zeigten ganz deutlich: Die Leute haben bei | |
| dem Beitrag weggeschaltet. Sie wollen nicht hinsehen. Das hat mich sehr | |
| betroffen gemacht. | |
| Vielleicht liegt dem eine Hilflosigkeit zugrunde. | |
| Aber man kann doch etwas tun! Die Fachkräfte müssen geschult werden, es | |
| braucht in Einrichtungen gelebte Schutzkonzepte. Das ist unverzichtbar, | |
| aber leider gibt es keine verpflichtenden Standards. Wichtig sind | |
| Selbstvertretungen, damit sich Menschen mit Lernschwierigkeiten gegenseitig | |
| unterstützen. In den Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung gibt | |
| es inzwischen geschulte Frauenbeauftragte aus der Belegschaft selbst. Das | |
| brauchen wir als Verpflichtung auch in Wohneinrichtungen. Außerdem sollten | |
| Schutzräume wie Frauenhäuser zugänglich sein für Menschen mit komplexen | |
| Lernschwierigkeiten, das ist leider kaum der Fall. Auch da braucht es | |
| Schulungen für die Mitarbeiterinnen. | |
| Und außerhalb von Einrichtungen – bei den Fahrdiensten zum Beispiel? | |
| Warum sollte es nicht auch eine Verpflichtung zu Schutzkonzepten und | |
| Schulungen bei Fahrdiensten geben?! Ich bin davon überzeugt, wenn schon bei | |
| Einstellungsgesprächen mit Fahrer*innen über den Verhaltenskodex und das | |
| Thema sexualisierte Gewalt gesprochen würde, dann würden potenzielle Täter | |
| abgeschreckt. | |
| Und Sie können all diese Akteur*innen schulen? | |
| Wir schaffen das nur für die Selbstvertreter*innen. Wenn wir wirklich in | |
| die Breite gehen würden – allein in Berlin gibt es unzählige Wohn-, | |
| Arbeits- und Freizeiteinrichtungen – dann sind wir mit unseren nicht einmal | |
| anderthalb Stellen in der Mutstelle schnell am Ende. | |
| Wie gut werden die Fälle von sexualisierter Gewalt an Menschen mit | |
| Lernschwierigkeiten auch strafrechtlich weiterverfolgt und in eindeutigen | |
| Fällen die Täter belangt? | |
| Die Benachteiligung von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Rechtssystem | |
| ist beschämend. Dort geht das Nichternstnehmen noch viel weiter. In Berlin | |
| werden nur 3,4 Prozent aller angezeigten Sexualstraftaten verurteilt. Bei | |
| Menschen mit Behinderung ist das mit Sicherheit noch einmal weniger. | |
| 3 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.lebenshilfe-berlin.de/de/aktuelles/meldungen/2022/Mutstelle-der… | |
| [2] /RKI-Bericht-zur-Gesundheit-von-Frauen/!5730584 | |
| [3] /Einrichtungen-der-Behindertenhilfe/!5854567 | |
| [4] /Kinderkuren-in-der-DDR/!5866907 | |
| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
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