# taz.de -- Barrierefreiheit in Berlin: Letzter Wunsch Pearl Jam | |
> Roland Mandel sitzt im Rollstuhl, ihm wurde der Zugang zur Waldbühne | |
> verwehrt. Denkmalschutz ist im Bau aus Nazi-Zeiten wichtiger als | |
> Menschenrechte. | |
Bild: Die Waldbühne, hier bei einem Konzert der Berliner Philhamoniker | |
BERLIN taz | Roland Mandel hat sich 2019 ein Ticket für [1][Pearl Jam] | |
gekauft. Nach zwei coronabedingten Verschiebungen soll das am 21. Juni | |
stattfinden, auf der Waldbühne im Westen Berlins. Mandel sitzt inzwischen | |
im Rollstuhl und hat vermutlich nur noch den Sommer zu leben. Dass er trotz | |
Ticket keinen Zugang zur Waldbühne bekommen sollte, ist nicht nur von | |
persönlicher Dramatik, sondern auch ein Armutszeugnis für die Inklusion im | |
Kulturbereich. | |
Mehr als 22.000 Menschen passen in die Waldbühne in | |
Charlottenburg-Wilmersdorf, im Rollstuhl dürfen davon nur 12 sitzen. Wenn | |
diese Plätze auf einem speziellen Podest ausgebucht sind, wird | |
Rollstuhlfahrer:innen der Zugang verwehrt. | |
„Auf die Idee wären wir erst gar nicht gekommen“, sagt Sandra Dragendorf, | |
die Frau von Roland Mandel. Er selbst kann kaum noch sprechen, nur mit Mühe | |
mit einem Tablet kommunizieren. Der Lehrer aus Lüneburg bekam vor nicht | |
einmal einem Jahr die Diagnose: [2][Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)]. Bei | |
dieser unheilbaren Erkrankung des Nervensystems werden die motorischen | |
Nervenzellen binnen kurzer Zeit so schwer geschädigt, dass die Betroffenen | |
oft nur noch wenige Monate oder Jahre zu leben haben. | |
„Roland hat nicht mehr viel, nur noch den Sommer“, sagt seine Frau. Den 18. | |
Geburtstag seiner älteren Tochter will er noch erleben. Und das | |
Pearl-Jam-Konzert. „Egal, wie schlecht es ihm geht, er hat gesagt, wir | |
fahren“, sagt Dragendorf. Kompliziert genug war es, die Anreise mit der | |
Bahn und vor allem die Unterbringung in einem rohlstuhlgerechten Zimmer mit | |
Pflegebett zu organisieren. Dass Roland Mandel aber gar nicht in die | |
Waldbühne reinkommen könnte, wurde erst nach einer Nachfrage beim | |
Konzertveranstalter klar. | |
## Verantwortung wird hin- und hergeschoben | |
Und dann beginnt ein Kampf der Freund:innen von Roland Mandel, viele | |
davon auch langjährige Pearl-Jam-Fans, um dieses letzte Konzerterlebnis. | |
Sie schreiben an den Veranstalter und den Pächter der Waldbühne und die | |
Behindertenbeauftragte Berlins und die Kulturverwaltung. Auch die taz | |
schreibt diese und noch mehr Stellen an. Denn eigentlich muss jede große | |
Versammlungsstätte in Berlin mindestens 1 Prozent Rollstuhlplätze | |
vorhalten. Bei der Waldbühne wären das also mindestens 220 Plätze – und | |
nicht 12. Statt Antworten auf diese Diskrepanz und eine Lösung für den | |
Konzertbesuch von Roland Mandel mündet diese Recherche zunächst nur in | |
einem Hin- und Herschieben der Verantwortung. | |
Der Betreiber der Waldbühne ist – nach einer Ausschreibung des Senats im | |
Jahr 2008 – die CTS Eventim, ein börsennotiertes Veranstaltungsunternehmen | |
mit Sitz in München. Eine Sprecherin verweist darauf, dass sie ja nicht der | |
Veranstalter des Pearl-Jam-Konzerts sei, sondern die MCT Agentur. Die | |
könnten vielleicht etwas für Roland Mandel tun, aber mehr als die | |
ausgewiesenen Rollstuhlplätze könnten sie auch nicht verkaufen. Mehr | |
Rollstuhlplätze wären aus Sicherheitsgründen in dem denkmalgeschützten | |
Altbau aus der Nazizeit nicht möglich. Für die baulichen Gegebenheiten sei | |
man auch nicht verantwortlich, sondern der Eigentümer. Man sei aber „immer | |
wieder in Gesprächen, um die Lage zu verbessern“. Über konkrete Vorhaben | |
und mögliche Hinderungsgründe wusste die Sprecherin wenig zu berichten und | |
verwies lediglich auf die Hürden des Denkmalschutzes. | |
Für die „Verordnung über den Betrieb von baulichen Anlagen“, die die | |
1-Prozent-Regelung für Versammlungsstätten enthält, ist die | |
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zuständig. „Die Probleme in der | |
Waldbühne sind schon länger bekannt“, heißt es von dort, und dass die | |
Waldbühne unter Bestandsschutz steht und die Anzahl der Rollstuhlplätze | |
erst bei einem Umbau oder einer Sanierung angepasst werden müsste. | |
Zuständig sei das Land Berlin in Vertretung durch die Senatsverwaltung für | |
Inneres und Sport als Eigentümer des Olympiaparks und damit auch der | |
Waldbühne. | |
## Man hofft auf Umbau | |
Aus der Sportverwaltung wiederum heißt es: „Bereits seit einigen Jahren ist | |
beabsichtigt, die geplante Treppensanierung der Waldbühne mit Maßnahmen zur | |
Verbesserung der Barrierefreiheit, zu welchen auch die Erhöhung der Anzahl | |
der Rollstuhlplätze gehört, zu verbinden.“ Es liege am Denkmalschutz, dass | |
dies so lang dauere, man hoffe aber, 2023 mit einem Umbau zu beginnen. | |
Bereits jetzt sei aber klar: „Die Schaffung von 1 Prozent Rollstuhlplätze | |
lässt sich aufgrund der Struktur der baulichen Anlage nicht erreichen.“ | |
Beim Landesdenkmalamt ist das Thema Waldbühne dagegen offenbar noch gar | |
nicht untergekommen, eine Sprecherin verweist auf die Untere Denkmalbehörde | |
des Bezirks. Dort ist niemand erreichbar. | |
Vor wenigen Jahren fühlte sich auch die Senatsverwaltung für Kultur noch | |
für die Waldbühne zuständig – auf eine Kleine Anfrage im Jahr 2018 | |
antwortete sie, dass man bei Bedarf zusätzliche Bereiche der Waldbühne als | |
Rollstuhlplätze ausweisen könne. Heute heißt es auf taz-Anfrage vom | |
Pressesprecher: „Für die [3][Barrierefreiheit der Berliner Kulturstätten] | |
fühlen wir uns nicht zuständig.“ Dies sei Sache der Eigentümer und anderer | |
Verwaltungen. Dass die Waldbühne Landeseigentum ist, scheint ihm nicht | |
bekannt. | |
## Immer wieder Aufregung | |
Für die Landesbehindertenbeauftragte ist das Thema Waldbühne dagegen seit | |
Jahren ein Aufreger. Immer wieder gebe es deshalb Bürger*innenbeschwerden, | |
berichtet Christine Braunert-Rümenapf. Nicht nur die viel zu wenigen | |
Rollstuhlplätze seien hier und in anderen Kulturstätten ein großes Problem. | |
Auch dass man sich seinen Platz nicht aussuchen kann, nicht in der Gruppe | |
begleitender Freund*innen sitzen könne und der Ticketkauf für | |
Rollstuhlplätze zum Teil nur über Vorverkaufsstellen möglich sei, sei | |
unerträglich. | |
Diese Geschichte, das sagt auch die Landesbehindertenbeauftragte, ist | |
einmal mehr ein Beweis, wie sehr die Inklusion in dieser Stadt an dem | |
Gefühl der Nichtzuständigkeit krankt. „Es reichen eben nicht die | |
Sonntagsreden, in denen alle betonen, wie wichtig ihnen doch die inklusive | |
Stadt ist“, sagt Braunert-Rümenapf. | |
Aber was ist nun mit Roland Mandels Konzertbesuch?! Der Konzertveranstalter | |
MCT Agentur lehnt auf mehrfache Anfrage einen Zugang wegen | |
sicherheitsrechtlichen Vorgaben ab und verweist darauf, dass jede*r | |
Ticketkäufer*in des mehrfach verschobenen Konzerts bei Verhinderung | |
kostenfrei stornieren könne. | |
## Doch noch Druck | |
Nach Tagen der Intervention gibt es aber für den letzten Konzertwunsch | |
eines schwerkranken Menschen eine positive Wendung: Der | |
Waldbühnen-Betreiber Eventim verspricht „vor Ort eine gute Lösung in Ihrem | |
Interesse“, nachdem offenbar die Kulturverwaltung doch noch Druck gemacht | |
hatte. | |
Bei Roland Mandels Freund:innen rollen Tränen der Freude. Aber die | |
Empörung darüber, dass man als Rollstuhlfahrer so sehr um einen | |
Konzertbesuch kämpfen muss, die bleibt. | |
13 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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