# taz.de -- Mangelnde Barrierefreiheit: Kein Blind Date in der Bar | |
> Berlins Cafés, Kneipen und Restaurants sind oftmals nicht barrierefrei. | |
> Grund dafür ist das fehlende gesellschaftliche Bewusstsein. | |
Bild: Ausgehen ist für viele BerlinerInnen nicht so einfach | |
BERLIN taz | Die engen, teilweise urigen Berliner Kneipen oder die Vielzahl | |
an kleinen Restaurants in den angesagten Stadtteilen sind gemütlich. In den | |
häufig in Altbauten ansässigen Gastronomiebetrieben Berlins sitzen die | |
Leute in verwinkelten Ecken zusammen oder gruppieren sich um Stehtische. | |
Wenn nicht gleich die ganze Kneipe im Keller ist, sind es zumindest häufig | |
die Toiletten. In den meisten ist nicht viel Platz. Eine Benutzung für | |
eine Person im Rollstuhl beispielsweise, wenn sie überhaupt durch die | |
häufig engen Kneipeneingänge hineingekommen ist, ist somit unmöglich. | |
Kathrin Geyer ist die Vorsitzende des Landesbeirats für Menschen mit | |
Behinderung. Sie erzählt, dass es ihr oftmals unangenehm sei, eine | |
Sonderbehandlung in der Gastronomie bekommen zu müssen, nur weil sie im | |
Rollstuhl sitzt. Die wenigsten gastronomischen Betriebe in Berlin wären | |
darauf ausgelegt, dass Menschen mit Behinderung problemlos Zugang haben. | |
Besonders anstrengend: Der Mangel an barrierefreien Toiletten. Dabei ist | |
die [1][Gesetzeslage im Bereich Barrierefreiheit auf den ersten Blick | |
eindeutig]: Allen Menschen soll Zugang zu Restaurants, Cafés, Kneipen etc. | |
gewährleistet werden. Gleichzeitig bieten sich den GastronomInnen | |
allerdings einige Ausweichmöglichkeiten: Ist ein Gebäude oder dessen Umbau | |
vor 2002 geschehen und/oder ist die Umsetzung zur Barrierefreiheit zu teuer | |
– dann entfällt die gesetzliche Verpflichtung zur Umsetzung. Laut Kathrin | |
Geyer ist der primäre und entscheidende Faktor für mangelnde | |
Barrierefreiheit aber nicht die Gesetzeslage, sondern die Frage der | |
gesellschaftlichen Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung. | |
## Barrierefreiheit bedeutet mehr als eine Rollstuhlrampe | |
Die 22-jährige Studentin Marie Lampe ist seit ihrer frühen Kindheit blind | |
und [2][engagiert sich beim Berliner Verein SozialheldInnen für Inklusion.] | |
Für sie ist wichtig zu betonen, dass unterschiedliche Behinderungen auch | |
unterschiedliche Anforderungen an eine barrierefreie Welt stellen: „Die | |
meisten Menschen denken bei dem Wort Barrierefreiheit automatisch nur an | |
Rollstuhlgerechtigkeit. Andere Einschränkungen werden dabei oft vergessen.“ | |
Im [3][Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ist | |
Barrierefreiheit im Grunde so definiert], dass diese mit gegebenenfalls | |
„notwendigen Hilfsmitteln“ die Welt genauso erleben können wie Menschen | |
ohne Behinderung. Das erfordert in der Gastronomie etwas mehr als eine | |
Rollstuhlrampe. „Auf mich wirkt es so, als seien Menschen mit Behinderung | |
meistens gar nicht als potenzielle KundInnen vorgesehen. Für Blinde gibt es | |
zum Beispiel so gut wie nie ein Blindenleitsystem oder barrierefrei | |
zugängliche Speisekarten. Auch der Assistenzhund darf oftmals nicht mit | |
rein und wenn doch, dann habe ich das Gefühl, dass er nicht erwünscht sei“, | |
erzählt Marie Lampe. | |
Das Selbstbild Berlins in Sachen Barrierefreiheit ist [4][auf der | |
stadteigenen Website berlin.de nachzulesen]. Da heißt es, dass sich die | |
Hauptstadt „auf dem Weg zu einer barrierefreien Stadt“ befinde. Außerdem | |
ist die Rede davon, dass es in den letzten 15 bis 20 Jahren „enorme | |
Fortschritte“ gegeben habe. Dazu ist ein Bild abgebildet, auf dem eine | |
Person im Rollstuhl an einem Bahngleis vor einem Zug zu sehen ist. Der ÖPNV | |
liegt allerdings in öffentlicher Hand. | |
Die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, Christine | |
Braunert-Rümenapf, sieht die Unterscheidung zwischen öffentlichem und | |
privatem Bereich als Problem: „Die relativ gute Gesetzgebung zur | |
Barrierefreiheit, die wir in Deutschland haben, gilt nur für den öffentlich | |
zu verantwortenden Bereich. Bei den öffentlich zugänglichen Orten, die aber | |
in privater Hand liegen, wie beispielsweise Kneipen und Restaurants, | |
mangelt es immer noch an einer systematischen Regelung.“ | |
## Viele Gesetze, schlechte Umsetzung | |
Die angesprochene „relativ gute Gesetzgebung“ setzt sich aus Verschiedenem | |
zusammen: Es gibt die UN-Behindertenrechtskonvention, zu deren Umsetzung | |
sich Deutschland verpflichtet hat, auf Bundesebene das Gesetz zur | |
Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (BGG) und auf Landesebene das | |
Landesgleichstellungsgesetz. Hinzu kommt, speziell für die Gastronomie, das | |
Gaststättengesetz. In all diesen Gesetzestexten ist die Verpflichtung zur | |
Umsetzung von Barrierefreiheit im gastronomischen Bereich enthalten. So | |
heißt es zum Beispiel im Gaststättengesetz unter Paragraf 4, dass | |
Gaststätten grundsätzlich zur Barrierefreiheit verpflichtet seien. | |
Aber keine Regel ohne Ausnahmen: Allgemein sind jene Betriebe davon | |
befreit, die in Gebäuden ansässig sind, die vor dem 1. Mai 2002 erbaut oder | |
maßgeblich umgebaut wurden. Außerdem entfällt die Verpflichtung zur | |
Barrierefreiheit, wenn „eine barrierefreie Gestaltung der Räume nicht | |
möglich ist oder nur mit unzumutbaren Aufwendungen erreicht werden kann“. | |
In der Gaststättenverordnung für Berlin steht unter Paragraf 4, dass „ab | |
einer Schank- und Speiseraumgrundfläche von 50 Quadratmeter mindestens eine | |
barrierefrei gestaltete Toilette für mobilitätsbehinderte Gäste benutzbar | |
sein muss“. Der darauf folgende Paragraf befreit aber auch hier die | |
Gaststätten von dieser Umsetzung, wenn der Aufwand zur Barrierefreiheit | |
„unverhältnismäßig“ sei. Besagte Verhältnismäßigkeit ist im Gesetz | |
definiert: „Wenn die zur Herstellung von Barrierefreiheit notwendigen | |
Umbaumaßnahmen die dreifache Miete übersteigen, so sind | |
Gastronomie-BetreiberInnen nicht zur Umsetzung von Barrierefreiheit | |
verpflichtet“, erklärt der Hauptgeschäftsführer des Hotel- und | |
Gaststättenverbands Berlin, Thomas Lengfelder. Zur besseren Einschätzung | |
verrät er, dass die Miete für gastronomische Betriebe in Berlin schon oft | |
im fünfstelligen Bereich liegen. Die hohen Mieten würden also eigentlich | |
dafür sprechen, dass Kneipen barrierefrei gestaltet sind. | |
## Noch massiver Verbesserungsbedarf | |
Lengfelder bestätigt, dass Gastronomiebetriebe oft in älteren Gebäuden | |
ansässig sind: „Wenige EigentümerInnen wollen eine Kneipe in ihrem Neubau | |
haben“, meint er. „Gleichzeitig ist nach meiner Erfahrung zumindest in den | |
meisten eine Rollstuhlrampe vorhanden, auch wenn man die nicht immer sofort | |
sieht.“ Lengfelder räumt ein, dass ihm bewusst sei, dass man als | |
nicht-betroffene Person weniger auf Barrierefreiheit achte. | |
Kathrin Geyer sitzt seit 2004 im Rollstuhl und kann das Vorhandensein von | |
Rollstuhlrampen nicht bestätigen: „Es ist eher die Ausnahme als die Norm. | |
Da habe ich im Ausland, zum Beispiel in Spanien, schon bessere Erfahrungen | |
gemacht.“ | |
Auch für die Landesbeauftragte Braunert-Rümenapf ist die Sache klar: Es | |
gibt noch massiven Verbesserungsbedarf. Sie sagt, es sei eine zu einfache | |
Ausrede zu behaupten, dass der Aufwand schlichtweg zu hoch sei, um ein | |
Café, eine Kneipe oder ein Restaurant barrierefrei zu gestalten: | |
„Einerseits können manche Dinge, wie beispielsweise ein Blindenleitsystem, | |
schnell umgesetzt werden. Für andere Situationen muss der Aufwand dann eben | |
aufgebracht werden.“ | |
Allgemein fehlt es laut Christine Braunert-Rümenapf an politischem und | |
persönlichem Willen, um Gastronomiebetriebe inklusiv zu machen: „Es gibt | |
einfach noch keine flächendeckende Bereitschaft und teilweise auch nicht | |
das Bewusstsein, dass einfach alles barrierefrei gestaltet werden soll. | |
Alles meint damit alles.“ | |
9 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/ | |
[2] https://sozialhelden.de/ | |
[3] https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/BJNR146800002.html | |
[4] https://www.berlin.de/lb/behi/berlin-barrierefrei/ | |
## AUTOREN | |
Josua Gerner | |
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