# taz.de -- Tag der Menschen mit Behinderung: „Viele können nicht mithalten�… | |
> Werkstätten stehen wegen mieser Löhne in Kritik. Doch im ersten | |
> Arbeitsmarkt ist nicht alles besser, so Christine Sacher vom Werkstattrat | |
> Bremerhaven. | |
Bild: Präzisionsarbeiten an der Säge – in vielen Werkstätten gibt es dafü… | |
taz: Frau Sacher, sollte man Behindertenwerkstätten abschaffen? | |
Christine Sacher: Nein, auf keinen Fall! | |
Ich frage, weil die Werkstätten gerade sehr in der Kritik stehen. | |
Aber sie sind als geschützter Raum extrem wichtig. Ich zum Beispiel bin | |
examinierte Krankenschwester, bin im Jahr 2000 psychisch krank geworden und | |
jetzt seit 17 Jahren bei den Elbe-Weser-Werkstätten beschäftigt. Natürlich | |
wirkt es seltsam, wenn einer, der immer anderen geholfen hat, plötzlich | |
selbst in der Werkstatt ist. Aber für mich war es der richtige Weg. Hier | |
ist es möglich, auch mal drei Schritte vor und zwei Schritte zurück zu | |
machen. | |
Die Kritik an den Werkstätten bezieht sich meist aufs Geld: Es wird dort | |
nicht einmal Mindestlohn gezahlt. | |
Ja, es gibt für viele nur etwa zwei Euro in der Stunde. Dazu kommen noch | |
ergänzende Sozialhilfe und Renteneinzahlungen. Gut ist das natürlich nicht. | |
Nach der UN-Behindertenrechtskonvention geht das mit den zwei Euro gar | |
nicht. Aber beim Thema Entgelt kommt gerade viel in Bewegung. Die SPD hat | |
im Bundestag eine Forschungsarbeit bis Ende 2023 in Auftrag gegeben: In der | |
Studie soll ausgearbeitet werden, was das beste Modell ist, Mindestlohn zum | |
Beispiel oder ein Basisgeld. | |
Ein Basisgeld? Was ist damit gemeint? | |
Das Konzept Basislohn ist von Werkstatträte Deutschland erarbeitet worden, | |
zusammen mit Beschäftigen aus allen Werkstätten. Damit sollen alle | |
Beschäftigten 1.400 Euro bekommen. | |
Das klingt schon mal nicht schlecht, aber müsste nicht das Ziel im Sinne | |
der Inklusion sein, Stellen auf dem regulären Arbeitsmarkt zu schaffen? | |
Klar, wenn ich meine Kollegen anschaue, gerade in den Werkstatträten, | |
frage ich mich auch: Warum seid ihr hier? Warum seid ihr nicht da draußen, | |
irgendwo in hohen Positionen? Aber so ist es eben, man sieht nicht allen | |
die Behinderung an. Draußen können viele einfach nicht mithalten. | |
Also muss sich doch die Arbeitswelt ändern. | |
Schon. Aber das Problem bleibt: In der freien Wirtschaft gibt es wenig | |
soziale Absicherung. Sie bekommen dann zwar Mindestlohn – aber damit ist | |
die Rente am Ende oft sogar kleiner als in der Werkstatt, das wäre doch | |
keine Lösung. Alle prügeln auf der Werkstatt rum. Aber der Rest hat es auch | |
nicht leicht. Es gibt gar nicht so viele Jobs, die man mit Behinderung auf | |
dem ersten Arbeitsmarkt machen kann. | |
Ließe sich das nicht über mehr Barrierefreiheit ändern? | |
Ja, das ist das Eine. Die Kassen am Rewe sind einfach zu klein für einen | |
Rollstuhl. Aber das ist eben noch nicht alles. Viele Kollegen können nicht | |
lesen und schreiben. | |
Laut dem aktuellen Inklusionsbarometer der Stiftung Mensch besetzen große | |
Firmen 4,6 Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten. | |
Ich weiß aber, dass viele Betriebe lieber die Strafen zahlen, als | |
Behinderte neu einzustellen. Ein Schwerbehindertenausweis kann schützen, | |
wenn Sie angestellt sind. Aber bevor Sie sich bewerben, ist es meiner | |
Meinung nach nicht zu empfehlen, sich die Behinderung bescheinigen zu | |
lassen, weil sie dadurch mehr Probleme haben, den Job zu bekommen. | |
Sie setzen sich mit einem Antrag dafür ein, Bildungsangebote für | |
Werkstattbeschäftigte zu verbessern. Geht es Ihnen darum, dass Menschen | |
rauskommen aus dem System Werkstatt? | |
Nein, andersrum: Es geht darum, dass Ausbildungsmodule in der Werkstatt | |
selbst angeboten werden. Sie soll ein Haus für Arbeit und Bildung werden. | |
Natürlich soll Bildung Appetit machen auf die Arbeit draußen. Aber eben so, | |
dass man nicht gleich alle rausprügelt und zwingt, sich woanders zu | |
qualifizieren. | |
Wie sollen die Bildungsangebote aussehen – wie klassische Computerkurse? | |
Ich könnte mir auch noch schickere Sachen vorstellen. Was wäre zum Beispiel | |
mit speziellen Fahrschulen? Berufliche Qualifizierung ist jedenfalls nicht | |
mehr nur häkeln. | |
Ist denn bisher keine Weiterbildung vorgesehen? | |
Doch, aber der Berechnungsschlüssel für die berufliche Qualifizierung passt | |
nicht: Bei den Angeboten ist vieles, was wir brauchen, nicht mitfinanziert. | |
Was fehlt denn? | |
Ein Beispiel: Es gibt Computermäuse in den verschiedensten Varianten. Aber | |
das reicht nicht, es müsste erst mal Ergotherapie geben, damit die Mäuse | |
auch motorisch benutzt werden können. Nur dann erkennen die Kollegen, was | |
sie alles können. Alles das kostet Geld – die Werkstätten müssen bisher | |
vieles selbst finanzieren, das geht nicht. | |
Ihren Antrag wollten Sie heute im Bremer Behindertenparlament stellen. | |
Jetzt wurde die Sitzung wegen der Pandemie auf Mai 2022 verschoben. Wirft | |
Sie das zurück? | |
Sie müssen ohnehin einen langen Atem haben, wenn Sie in der | |
Behindertenpolitik arbeiten. Was machbar ist, ändert sich nur langsam. | |
3 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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