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# taz.de -- Corona und Menschen mit Behinderung: Verhinderte Karrieren
> Für Menschen mit Behinderung hat die Coronapandemie die Lage gravierend
> verschlechtert. Gerade auf dem Arbeitsmarkt kämpfen viele.
Bild: Oliver Biermanns Pläne für ein eigenes Unternehmen hat Corona nur verz�…
„Sie sind so behindert, Sie müssen sich nicht bewerben und so.“ Diesen
Spruch hatte eine Sachbearbeiterin des Jobcenters für Oliver Biermann
parat, als er sich vor sieben Jahren arbeitslos melden musste. Da hatte der
inzwischen 30-jährige Berliner schon eine Menge Diskriminierungserfahrungen
hinter sich. Biermann bewegt sich im Rollstuhl fort und kommuniziert über
einen Sprachcomputer. Das Jobcenter hatte für ihn nur zwei Angebote: Hartz
IV oder Behindertenwerkstatt. „Aber ich will Geld verdienen wie jeder
andere auch!“, sagt Biermann. Nun bleibt ihm nur der Sprung in die
Selbstständigkeit. Sein Traum: eine eigene Eismanufaktur. Eigentlich
sollten die Vorbereitungen längst laufen. Doch dann kam Corona.
Die Auswirkungen der Coronapandemie auf den Arbeitsmarkt sind für Menschen
mit Behinderung gravierend. Die Zahl der Arbeitslosen mit Schwerbehinderung
liegt aktuell so hoch wie zuletzt vor vier Jahren. Laut einer in dieser
Woche veröffentlichten Studie der Aktion Mensch sind 13 Prozent mehr
Menschen mit Schwerbehinderung arbeitslos als 2019, in einzelnen
Bundesländern sind es sogar rund 19 Prozent.
Zwar ist der gesamte Arbeitsmarkt von diesem Negativtrend betroffen, die
Folgen der Coronapandemie dürften für Arbeitslose mit Schwerbehinderung
aber deutlich länger andauern. „Haben Menschen mit Behinderung ihren
Arbeitsplatz erst einmal verloren, finden sie sehr viel schwerer in den
ersten Arbeitsmarkt zurück als Menschen ohne Behinderung“, erklärt
Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch.
Aber auch vor der Pandemie war die Situation längst nicht so rosig, wie es
zunächst scheint. Ende 2019 lag die Arbeitslosenquote mit 10,9 Prozent
immer noch deutlich über der von Menschen ohne Behinderung (5 Prozent).
Außerdem mahnt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in einem anlässlich des
Internationalen Tags für Menschen mit Behinderung veröffentlichten
Positionspapiers: [1][Das Armutsrisiko für Menschen mit Behinderung steigt]
– trotz der positiven Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt, die es vor der
Pandemie gab. Für Menschen mit Beeinträchtigungen ist das Armutsrisiko seit
2005 um fast 50 Prozent gestiegen, nahezu jeder Fünfte ist nach einer
Auswertung des Mikrozensus von 2017 von Armut betroffen, insgesamt 2,5
Millionen Menschen. In der restlichen Bevölkerung blieb das Armutsrisiko in
diesen Jahren gleich. „Grund für das gestiegene Armutsrisiko ist die
Deregulierung des Arbeitsmarkts seit 2005“, sagt DGB-Vorsitzende Anja Piel.
Im stetig gewachsenen Niedriglohnsektor führten Minijobs gerade für
Menschen mit Erwerbsminderung zu Mini-Löhnen und Armut.“
## Körperlich überfordert, geistig unterfordert
Für Oliver Biermann begann „die Abwärtsspirale“ seiner beruflichen Laufba…
schon in der gymnasialen Oberstufe. Die zehnte Klasse durfte er noch
aufteilen und binnen zwei Jahren absolvieren. Das Resultat: Ein guter
mittlerer Schulabschluss und die Empfehlung fürs Abitur. Aber in der 11.
Klasse blieben ihm ausreichende Nachteilsausgleiche verwehrt. Die
Arbeitsagentur hielt ihn, der gerade am Abitur vorbeischrammte, nur für
eine Ausbildung geeignet: Bürokraft. „Das war eine Ausbildung für Menschen
mit Lernbehinderung“, sagt Biermann. Körperlich war er überfordert, geistig
unterfordert. Es folgten sieben Jahre Arbeitslosigkeit, Hartz IV. Nicht
arbeiten zu können, keine Aufgabe zu haben, das bedeute Langeweile und
Vereinsamung, sagt Biermann.
Die bisherige Bildungs- und Erwerbsbiografie Biermanns macht deutlich, was
auch [2][Sozialverbände und Selbstvertretungen von Menschen mit
Behinderung] immer wieder betonen: In allen Stationen von Schule über
Ausbildung bis Job gibt es Mängel. Von einem gleichberechtigten Zugang zum
Arbeitsmarkt, wie ihn die seit fast 12 Jahren geltende
UN-Behindertenrechtskonvention verlangt, ist Deutschland – auch ohne
Pandemie – noch weit entfernt.
Der DGB fordert nun arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, wie zum Beispiel die
Umwandlung von Minijobs in sozialversicherte Beschäftigung, einen
Mehrbedarf bei Behinderung in Hartz IV und eine bessere Betreuung durch die
Jobcenter. Noch vor der anstehenden Bundestagswahl müssten die Parteien
klären, wie sie die schwerwiegenden Probleme lösen wollen, so Vorsitzende
Anja Piel.
Oliver Biermann gestaltet sein Lebensumfeld seit drei Jahren dank selbst
ausgewählter Assistenten selbstbestimmt. Auch beruflich scheint nun wieder
viel mehr möglich. Seit zwei Jahren tüftelt Biermann an seiner Idee: Die
eigene Manufaktur soll Eis aus Schafsmilch für kleine Bioläden herstellen,
mit Rohstoffen aus der Region. Das Arbeitsamt gab ihm einen Gutschein für
einen Gründerberater, zuletzt sollte eine Crowdfunding-Kampagne
starten. Dass nun Corona alles verzögert? „Ich habe so lange gewartet, dann
macht das bisschen auch nichts mehr aus.“
3 Dec 2020
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## AUTOREN
Manuela Heim
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