# taz.de -- Aktivistin über Selbstbestimmung: „Behinderte Frauen sind oft ä… | |
> Sigrid Arnade erlebt als behinderte Frau doppelte Diskriminierung. Im | |
> Interview spricht die Aktivistin und Journalistin über Barrierefreiheit | |
> und 30 Jahre ISL. | |
Bild: Inklusiv und subversiv: „Spaceship“-Party im Berliner Club „Mensch … | |
taz: Frau Dr. Arnade, im Oktober 1990 wurde [1][die ISL gegründet]. Sie | |
waren am Anfang noch nicht dabei. Wo waren Sie zu der Zeit? | |
Sigrid Arnade: Ich lebte als freie Journalistin in Köln. Ich war bereits | |
behindert, politisch aktiv und habe mich mit der Situation behinderter | |
Frauen auseinandergesetzt. Die Gesetzgebung war ja von Männern dominiert, | |
auch in den sogenannten Krüppelverbänden. Die Frauen waren vielleicht in | |
der Mehrheit, mussten Protokoll schreiben und Kaffee kochen, aber das Sagen | |
hatten die Männer. | |
Was waren für behinderte Frauen damals die wichtigen Themen? | |
Ein zentrales Thema war die doppelte Diskriminierung als Frau und als | |
[2][Mensch mit Behinderung]. Das zeigt sich bis heute mit Blick auf den | |
Arbeitsmarkt: Behinderte Frauen sind dort immer noch Schlusslicht, und sie | |
sind besonders von Armut betroffen. | |
Worum ging es damals noch? | |
Um Geburtskliniken, die nicht barrierefrei sind, und um Kindergärten und | |
Schulen, die erst heute allmählich barrierefreier werden. Und um | |
sexualisierte Gewalt, von der behinderte Frauen zwei- bis dreimal häufiger | |
betroffen sind. Das wurde damals auch schon diskutiert in Fachkreisen, aber | |
die breite Öffentlichkeit wusste es noch nicht. | |
Wenn ich mich an die 1990er Jahre erinnere, fallen mir Frigga Haug (Anm. d. | |
Red.: Soziologin und marxistische Feministin) ein und Ansätze, Frauen durch | |
autobiografisches Schreiben zu einer nicht normativen Identität zu | |
ermutigen. Welche Ansätze haben Sie damals verfolgt? | |
Dazu kann ich nichts sagen. Ich bin ja erst mal nicht behindert | |
sozialisiert und erst seit meinem dreißigsten Lebensjahr auf einen | |
Rollstuhl angewiesen. Ich habe Tiermedizin studiert, war auf dem Land tätig | |
und habe mit Rindern und Schweinen gerungen. | |
Es ist eine Ironie des Schicksals: Ich habe damals immer gesagt: „Was soll | |
das? Ich bin ja nicht behindert!“ Was ich durch Multiple Sklerose damals | |
schon war, aber noch nicht wusste. | |
Wie kamen Sie als Tierärztin in die Redaktion? | |
Als mir klar wurde, dass ich Chemie in die Kühe spritze und zugleich | |
wusste: Das essen die Leute heute mit. Ich dachte: Ich bin die Handlangerin | |
einer vergeigten Landwirtschaft. Die Zeit, um für Greenpeace auf | |
Schornsteine zu klettern, war vorbei. Also kam der fliegende Wechsel vom | |
Kuhstall in die Redaktion. | |
Als Journalistin haben Sie damals angefangen, über Menschen mit | |
Behinderungen zu berichten. Wie wurde das Thema in den Medien dargestellt? | |
Es hat mich geärgert, dass in der Berichterstattung behinderte Menschen | |
entweder dargestellt wurden als arme Krüppel, denen man etwas Gutes tun | |
muss. Oder als Superhelden, die trotz ihres Schicksals das Leben meistern. | |
Der behinderte Mensch wurde selten als normale Mitbürgerin gezeigt. Das ist | |
heute schon besser, aber es gibt immer noch „Mitleidsgeschichten“. | |
Zehn Jahre später nutzten Sie dann einen Aktionsbus der „Aktion Mensch“ | |
dafür, die Rechte für Frauen zu verbessern. Wie lief das ab? | |
Es gab inzwischen Netzwerke behinderter Frauen in vielen Teilen | |
Deutschlands, und wir hatten eines in Berlin gegründet. Wir sind damals mit | |
dem Bus an die Stelle am Landwehrkanal gefahren, wo Rosa Luxemburg ermordet | |
wurde. Und haben eine Resolution an die damalige Gesundheitsministerin Ulla | |
Schmidt übergeben, um das Recht auf Frauenpflege zu erstreiten. | |
Wir sind zum Bundesjustizministerium gefahren und haben das | |
Zweiklassen-Sexualstrafrecht angeprangert. Damit hatten wir Erfolg – wenn | |
auch erst Jahre später. Damals bekamen Vergewaltiger noch eine geringere | |
Strafe, wenn die Frauen behindert waren. | |
Aus heutiger Sicht: unglaublich. Was hat sich noch verbessert durch die | |
Arbeit der ISL? | |
Ich glaube, normativ hat sich vieles verbessert, also gesetzlich. Die | |
Vokabel „Frau“ taucht jetzt in Gesetzen auf, die für behinderte Menschen da | |
sind. Das war vorher nicht der Fall. Da gab es nur „den“ Behinderten, das | |
war immer noch der Kriegsinvalide von 1945/46. Es hat sich die Erkenntnis | |
durchgesetzt, dass behinderte Menschen auch Frauen sind. | |
Was hat sich im Alltag geändert? | |
Generell ist die Barrierefreiheit besser geworden. Als ich 1986 | |
Rollifahrerin wurde, war der öffentlichen Nahverkehr lange nicht so gut wie | |
heute. Oder dass man heute einigermaßen sicher eine Rollitoilette findet. | |
Der ganz große Erfolg war aber natürlich die Durchsetzung der | |
Behindertenrechtskonvention. | |
… dafür waren Sie auch mit bei den Vereinten Nationen in New York … | |
Ich war ab 2005 dreimal in New York in drei Verhandlungsrunden. Dort habe | |
ich mich vor allem dafür eingesetzt, dass die Rechte behinderter Frauen in | |
[3][der UN-Behindertenrechtskonvention] verankert werden. Der erste Entwurf | |
war absolut geschlechtsneutral. Selbst bei dem Artikel zum Thema „Gewalt“ | |
kam das Wort „Frau“ nicht vor. | |
Dann habe ich mit einer Kollegin vom Sozialverband Deutschland zusammen | |
eine Kampagne „Behinderte Frauen in der Konvention sichtbar machen“ | |
gegründet und bin erneut nach New York geflogen. Wir waren damit | |
erfolgreich. | |
Das haben Sie gemeinsam mit der Aktivistin Theresia Degener erreicht? | |
Ja, Theresia Degener war als Beraterin der deutschen Regierungsdelegation | |
dabei. Auf Vorschlag des Deutschen Behindertenrates, den ich ja auch | |
mitgegründet hatte. Degener wurde für den Frauenartikel zur Moderatorin | |
bestimmt. Danach durfte sie keinen Kontakt mehr zu uns haben, denn wir | |
waren ja auf der Seite der Zivilgesellschaft. Dann hieß es immer: Nein, | |
ihr dürft nicht miteinander reden! Das war zum Teil schon ein bisschen | |
komisch! | |
Die USA waren früher in manchen Punkten ein Vorbild, etwa mit dem Ansatz | |
„Selbstbestimmt Leben“. Wie hat dieses Vorbild die Arbeit der ISL geprägt? | |
Die ISL hat versucht, das Arbeitgeber-Assistenz-Modell in Deutschland zu | |
etablieren. Was nicht für die Mehrheit der behinderten Menschen, aber für | |
viele doch ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, auch mit hohem | |
Assistenzbedarf. | |
Durch das Arbeitgeber-Assistenz-Modell stellt ein Mensch mit Behinderungen | |
seine Assistenten selbst an und kann dadurch in seinem Wohnumfeld bleiben. | |
Wofür hat sich die ISL noch engagiert? | |
Dass bei „Aktion Mensch“ die Richtlinien geändert wurden und nicht nur | |
Großeinrichtungen gefördert werden, sondern eher kleinere Wohngruppen. Wir | |
haben uns auch stark gemacht für die Grundgesetzergänzung, die | |
Verabschiedung des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes (BGG) und das | |
Allgemeine Gleichberechtigungsgesetz (AGG). | |
Und letztlich haben wir Einfluss auf die Behindertenrechtskonvention | |
genommen. Und wir haben mitgewirkt, dass das „Peer Counseling“ inzwischen | |
flächendeckend in vielen EUTB-Beratungsstellen unabhängig und kostenlos | |
angeboten wird. | |
… also ohne Beeinflussung durch die Sparzwänge von Sozialämtern oder | |
Krankenkassen. Wie funktioniert diese Beratung? | |
„Peer Counseling“ ist eine Beratungsmethode, zu der wir auch regelmäßig | |
Ausbildungen anbieten. Es bedeutet, dass in unseren lokalen Zentren für | |
Selbstbestimmtes Leben behinderte Menschen arbeiten und andere behinderte | |
Menschen darin beraten, [4][ein selbstbestimmtes Leben] zu führen. | |
14 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Wittmann | |
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