Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Coach über den Wunsch nach Sichtbarkeit: „Es war mir alles zu we…
> Anastasia Umrik ist Expertin für Neuanfänge: als Sonderschülerin an der
> Uni und als Rednerin im Rollstuhl, die kein Wort über Behinderung
> verliert.
Bild: „Ich falle sowieso auf – jetzt mache ich mehr daraus“: Anastasia Um…
taz: Sie haben einmal geschrieben, dass Sie sich lange an der
Randgruppenthematik abgearbeitet haben: Frau, behindert, Ausländerin. War
das ein Fehler, Frau Umrik?
Anastasia Umrik: Ich glaube, wir suchen uns eine Schublade, hinter der wir
uns verstecken können.
Warum verstecken?
Es ist doch viel zu simpel, zu sagen: es ist, weil ich behindert bin. Oder
weil ich schwarz bin. Oder weil ich alt werde. Natürlich muss man über die
Diskriminierung sprechen, die es in der Gesellschaft gibt, dass nicht alle
Orte für mich zugänglich sind, dass ich allein deshalb ausgeschlossen bin –
aber diese krasse Melancholie, diese Traurigkeit vom Gefühl der
Nichtdazugehörigkeit, das haben auch Menschen ohne Behinderung.
Gibt es ein Dazwischen, also ein: es ist „auch “ , weil ich behindert,
schwarz, eine Frau bin?
Ich glaube, diese Randgruppenthemen haben die Ritze in unserem Herzen
tiefer werden lassen. Dadurch wird die Wunde auch sichtbarer. Viel
schlimmer ist es bei Menschen, die optisch nichts haben, die
durchschnittlich weiß, attraktiv, intelligent sind, die haben wirklich ein
Problem.
Ich kann mir vorstellen, dass an dieser Stelle Leute denken: Das kann
jemand mit so viel Kampfkraft wie Sie sagen, aber andere tragen anders
daran.
Ich ecke mit meiner Sichtweise auf jeden Fall an. Eben weil die meisten
Menschen nicht bereit sind, zu sagen: Okay, in meinem Leben läuft einiges
schief, was kann ich aktiv ändern. Das bedeutet viel, viel Schmerz fühlen,
das bedeutet, richtig in die Dunkelheit tauchen. Das will eigentlich
keiner. Aber für mich gab es keinen Weg mehr, außer das zu machen. Ich war
recht erfolgreich mit meinen Projekten, wo ich mich an den
Randgruppenthemen abgearbeitet habe und bin trotzdem unglücklich ins Bett
gegangen.
Noch einmal zu der Frage der Prägungen, zu der Bedeutsamkeit von sozialen
Voraussetzungen...
So eine Prägung hat so viele Facetten und die gehören alle mit einbezogen.
Es spielt eine große Rolle, ob ich ein Arbeiterkind bin oder nicht. Wohne
ich in einem Ghettoviertel oder in Harvestehude. Bei mir war das Problem an
der Uni, dass ich gar nicht so einfach die Toilette nutzen konnte, weil die
nicht barrierefrei war. Und das hat mich sehr eingeschränkt im Lernen.
Wo Sie über Elternhäuser sprechen – wie war Ihr eigenes?
Ich bin ein Arbeiterkind, wir sind in den 90er-Jahren aus Kasachstan
hierher emigriert. Meine Eltern hatten ein Problem mit Entwurzelung, sie
wussten nicht so ganz, wo gehören wir hin. Das war immer so ein Schweben.
Sie sind von der Sonderschule schließlich bis zur Uni gekommen. War das
etwas, was Ihre Eltern mit durchgefochten haben?
Tatsächlich hatten sie weder die Kraft noch den Anspruch, dass ich so weit
komme. Für sie wäre es auch in Ordnung gewesen, wenn ich eine
durchschnittliche Ausbildung gemacht hätte. Aber ich hatte diesen Drang in
mir, weiterzukommen. Es war mir alles zu wenig. Vor allem, weil die Leute
immer gesagt haben: Ah, willst du dir das echt antun, willst du diesen
Kampf ausfechten?
Hat sich der Blick Ihrer Eltern auf Sie durch die Diagnose Ihrer
Muskelatrophie verändert?
Ich habe die Erkrankung schon mit zwei Jahren bekommen, die Diagnose aber
erst mit sieben. Und das war der Wendepunkt. Vorher war noch viel Hoffnung
da, das wird noch, das wird noch, vor allem bei meinem Vater. Und dann
diese Erkenntnis: es wird nicht mehr. Das hat viel in ihm kaputt gemacht
und in mir dann auch, weil ich immer wieder gefühlt habe, oder zu fühlen
bekam: das Kind ist nicht in Ordnung.
Und Ihre Mutter?
Meine Mutter ist eine starke Frau, die alles aufgegeben hat für mich, weil
es die Verwandtschaft gefordert hat.
Eine Kämpfermutter?
Genau. Und die ihr Leben nicht gelebt hat, weil ich da war.
Hat sie das formuliert?
Nein, es ist Fakt. Und je älter ich wurde und mehr ich angefangen habe,
mein Leben selbst zu leben, desto mehr wusste ich ja auch: die hat viel
aufgegeben und nicht gemacht.
Ich dachte früher immer, alle Familien sind am Ende in der Summe gleich
unglücklich. Inzwischen glaube ich, dass es für manche Menschen tiefer
hinab geht als für andere.
Ich glaube, dass es Zeit braucht. Man kann sich nicht auf eine Brücke
stellen und einfach springen. Manchmal muss man auch die Treppe ins Wasser
nehmen. Dann steckt man erst einmal den kleinen Zeh ins Wasser, dann den
halben Fuß. Und dann braucht man schon einen halben Tag, um sich von der
Temperatur zu erholen. Das zu akzeptieren, fällt mir persönlich schwer,
weil ich eine sehr schnelle Person bin. Wenn ich spüre, ich bin traurig,
will ich das weg haben, ich will morgen glücklich sein.
Auf Ihrer Internetseite schreiben Sie ganz offen, dass es zu viel wurde
mit den Projekten, in die Sie sich stürzen.
Es gab viele Projekte, die ich gemacht habe, weil mein Ego natürlich drauf
steht, wenn die Leute das gut finden. Wenn Leute mir schreiben: ich trage
Dein T-Shirt so gerne.
Weil es Sichtbarkeit schuf?
Genau – die ich früher nicht hatte. Aber das brauche ich heute nicht mehr.
Oder: ich möchte in anderen Dingen gesehen werden.
Wer hat Sie unterstützt in Ihrem Wunsch nach mehr Sichtbarkeit, nach mehr
als der Sonderschule?
Meine Eltern als Ausländer kannten das System nicht, die haben meine
Sehnsucht gesehen, aber sie hatten das Wissen nicht und auch nicht die
sprachliche Kompetenz. Die Behördenbriefe, die habe ich geschrieben seit
ich elf war. Die Sonderpädagogen in der Schule haben mich immer ausgelacht.
Ich habe immer erzählt: Irgendwann werde ich auf dem roten Teppich stehen.
Ich lebe dann in einer coolen eigenen Wohnung, auf keinen Fall im Heim, und
habe mindestens einen Verehrer. Die Sonderpädagogen haben gesagt:
„Akzeptier' dein Schicksal, du bist so eine Träumerin, du wirst nur
unglücklich.“ Das hat mich immer so wütend gemacht. Und ich weiß noch, als
ich die Modenschau organisiert habe, habe ich zu dem Techniker gesagt:
„Alles ist mir egal, aber ich brauche einen roten Teppich“, weil ich mich
an diesen Satz erinnert habe.
Haben Sie jemanden von damals eingeladen?
Nein. Aber einige sind gekommen. Dann haben sie mich ungefragt angefasst
und fotografiert. Ich habe die gehasst, ich habe immer noch so eine Wut auf
die.
Wie hat der Weg zur Regelschule geklappt?
Ich habe auf der Sonderschule meinen Hauptschulabschluss bekommen, dann gab
es eine Handelsschule. Dann habe ich beim Otto-Versand meine Ausbildung
begonnen und das war das erste Mal, wo mich Nicht-Behinderte in meinem
Alter gefragt haben, ob ich mit ihnen auf den Kiez gehe. Hört sich gut an,
nicht? Aber bis dahin war mein Selbstbewusstsein so klein, ich habe immer
abgesagt.
Ich würde wetten, dass Sie inzwischen ausgehen.
Ja, auf jeden Fall. Heute ist mir das so was von egal, ob mich jemand
anguckt. Im Gegenteil: Ich bin ja da, guckt mich doch an.
Heute sind Sie sehr präsent, geschminkt und sorgfältig zurecht gemacht.
Wann kam das?
Es war eine bewusste Entscheidung mit Anfang, Mitte zwanzig. Mir war klar:
Ich falle eh auf, egal wohin ich komme – jetzt mache ich auch mehr daraus.
Und dann habe ich angefangen, mich sichtbarer zu machen. Rote Lippen zu
meinem Markenzeichen zu machen und öfter ausgefallene Schuhe zu tragen.
Sie sagten, es habe wenig Unterstützung gegeben. Wer waren die wenigen?
Es gab immer zwischendurch Menschen, teilweise Fremde, die mich gesehen
haben und einfach so sagten: „Aus dir wird mal was werden, bleib' dran.“
Das waren Sätze, die hängen blieben. Oder eine Praktikantin in der Schule,
die immer gesagt hat: „Du gehörst hier nicht her, du bist anders.“ Dieses
kurze Gesehenwerden war wie ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber es hat
mir geholfen, nicht zu sterben.
Heute haben Sie eine persönliche Assistenz für Ihren Alltag. War das
gewöhnungsbedürftig?
Für mich ist Körperkontakt kein Problem, ich kenne das gar nicht anders.
Ich habe mir selber noch nie Socken angezogen, aber ich kann genau
beschreiben, wie man sie anzieht. Ich empfinde mich dann auch nicht als
hilflos. Für mich war es eher ein Problem zu lernen, die Distanz in der
Nähe einzuhalten. Zu spüren: die Leute ziehen mich nicht an, weil sie mich
so nett finden, sondern sie bekommen Geld dafür. Und weil sie Geld dafür
bekommen, darf ich Dinge auch verlangen. Das war für mich ein
Ablösungsprozess: zu merken, Assistenz hat nichts mehr mit meinem
Elternhaus zu tun.
Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Mutter heute?
Wir haben recht engen Kontakt. Sie ist froh, dass ich mich gegen alles
damals durchgesetzt habe und sie nicht mehr die Verantwortung für mich
trägt. Ich bin nicht davon abhängig, dass sie mich auf die Toilette setzt
oder dass sie mir morgens aus dem Bett hilft. Ich bin nicht abhängig von
ihrer Laune, ihrer Müdigkeit. Ich bin frei – sie aber auch. Das ist schön.
Ist es vergleichbar mit der Freiheit zu dem echten Leben, über das Sie bei
Ihrem TED-Talk in Dresden gesprochen haben?
Das war auch ein Neubeginn. Nach der Todesnähe vor vier Jahren hat der Talk
viel in mir befreit. Da habe ich noch mal gelernt, mich mutig zu zeigen und
eben nicht zum Thema Behinderung zu sprechen. Das erste Mal. Ich habe meine
Behinderung mit keinem Wort erwähnt, und das hat viele richtig verrückt
gemacht.
29 Sep 2020
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Diversität
IG
Hamburg
Behinderung
Menschen mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Feminismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Bahn verweigert Rollstuhl-Mitnahme: Heimreise im Rettungswagen
Eigentlich wollte Susanne Steffgen mit dem Zug fahren. Doch der
Regionalexpress fiel aus und im ICE durfte die Rollstuhlfahrerin nicht mit.
Aktivistin über Selbstbestimmung: „Behinderte Frauen sind oft ärmer“
Sigrid Arnade erlebt als behinderte Frau doppelte Diskriminierung. Im
Interview spricht die Aktivistin und Journalistin über Barrierefreiheit und
30 Jahre ISL.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.